Als junger Mann hatte Peter A. Jeschke ein klares Berufsziel: Modefotografie. "Der Film 'Blow up' hat mich wirklich beeindruckt. Ich wollte Schlaghosen tragen und in London mit Models abhängen und Fotos schießen." Stattdessen wurde er Geophysiker in der Öl- und Gasindustrie. Aus Pragmatismus, wie er sagt: "Ich konnte meiner Familie nicht guten Gewissens ein Leben als hungernder Künstler zumuten." Nahezu 50 Jahre lang blieb das Fotografieren ein geliebtes Hobby – bis zu einem kalten Herbstmorgen im Jahr 2015.
Nach vielen Jahren in frostfreien Gefilden waren Jeschke und seine Frau in ein altes Farmhaus in New Hampshire gezogen, an die Ostküste der USA. Der ehemalige Milchbauernhof sei der "stille Held" seiner Bilder, sagt Jeschke. Das Gebäude besitzt keine Isolierverglasung, sondern einfache Flügelfenster und Sturmfenster – Glasscheiben, die zum Schutz vor Wind und Kälte von außen in die Rahmen gesetzt wurden.
Als die Temperaturen im neuen Zuhause erstmals weit unter Null fielen, erwartete Jeschke nach dem Aufwachen ein lange vergessener Anblick. Die feuchte, warme Luft aus dem Zimmer war durch die Flügelfenster gekrochen und hatte Eisblumen an die Sturmfenster gemalt. Jeschke erinnerte sich daran, wie er als Junge mit dem Finger seine Initialen auf die zugefrorenen Scheiben seines Zimmers gekratzt hatte. Er holte seine Kamera und begann zu fotografieren.
Im Laufe der folgenden Jahre entwickelten sich die Kristallwelten zu einer regelrechten Obsession. An jedem ausreichend kalten Morgen kauert Jeschke reglos vor den gefrorenen Fenstern und lichtet in der Dämmerung mit großer Akribie alle Scheiben ab. Mehr als 30.000 Fotos hat er inzwischen geschossen, nicht ein einziges hat er wieder gelöscht. Zuerst fesselten filigrane Details seine Aufmerksamkeit. Doch dann drängte sich mehr und mehr eine philosophische Frage in den Vordergrund: Schafft die Natur Kunst auf seinen Fenstern?
Für Jeschke ist die Antwort ein klares Ja. Für ihn bedarf es keiner menschliche Vision oder gestalterischen Absicht. Die Gesetze der Physik genügen. Er sieht die Scheiben als Leinwand, den Wasserdampf als Medium, die Fensterrahmen als Bilderrahmen. "Farben, Formen, Linien, Tiefe, Bewegung und alle anderen Elemente der Kunst bilden eine ansprechende Komposition", sagt er. Deshalb fotografiert er inzwischen häufig die Fenster als Ganzes: Die Natur gestaltet, Jeschke dokumentiert.
Erst wenn der Frühling in New Hampshire den Frost ablöst, wendet er sich anderen Motiven zu. Etwa Rauchkringeln. Sie fotografiert er in einem alten Getreidesilo, durch dessen löchrige Wände einzelne Sonnenstrahlen in den dunklen Innenraum fallen. Sie verwandeln den Rauch der Räucherstäbchen in Muster, die gleichzeitig geometrisch und chaotisch wirken – und noch flüchtiger als Eisblumen.