Wer heute auf den Straßen von Teheran unterwegs ist, der kann etwas beobachten, was bis vor einem Jahr undenkbar war: Frauen jeden Alters, die ihre Haare nicht bedecken – und damit offen gegen die Gesetze der Islamischen Republik verstoßen. Dieser Akt des zivilen Ungehorsams ist die sichtbarste Folge der monatelangen Proteste, die Iran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini erschüttert haben.
Die junge Kurdin war mit ihrer Familie nur auf der Durchreise in der iranischen Hauptstadt, als sie am 13. September 2022 wegen eines angeblich schlechtsitzenden Kopftuchs, eines Hijab, von der berüchtigten Sittenpolizei festgenommen wurde. Drei Tage später löste die Nachricht ihres Todes erst einen Sturm in den sozialen Medien aus und dann auch auf den Straßen in vielen Regionen des Landes.
Das Regime in Iran reagiert mit Gewalt
Während die Behörden behaupteten, die junge Frau sei vorerkrankt gewesen und wahlweise einem Herzinfarkt, Organversagen oder einem Schlaganfall erlegen, versicherte die Familie, dass Jina Mahsa Amini vor ihrer Festnahme bei bester Gesundheit gewesen sei. Todesursache sei vielmehr die Misshandlung durch die Polizei gewesen.
So wurde Jina Mahsa Amini binnen weniger Tage zur Symbolfigur für etwas, was alle iranische Frauen zu erleiden haben, wenn sie sich nicht den misogynen Gesetzen der Islamischen Republik beugen: Gängelung, Gewalt und im Extremfall auch den Tod.
Das Regime reagierte auf die heftigen Proteste unter der Parole "zan, zendegi, azadi" (Frau, Leben, Freiheit), wie es immer auf Kritik reagiert: mit Brutalität. Hunderte Frauen, Männer und Kinder kamen im Umfeld der Demonstrationen zu Tode, mindestens sieben Personen wurden nach kurzen Schauprozessen exekutiert, mehr als 22.000 Menschen inhaftiert.
Im Foltergefängnis Evin werden Tausende unrechtmäßig festgehalten
Seither sind die Proteste leiser geworden, das Regime scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Allerdings: Den Hijab-Zwang konnten die Mullahs bislang nicht wieder flächendeckend durchsetzen. Derzeit wird über ein drakonisches Gesetz beraten, das ein Strafmaß von bis zu zehn Jahren vorsieht für Frauen, die das Kopftuch nicht ordnungsgemäß tragen.
Es gibt aber auch weniger sichtbare Folgen der Proteste: Hinter den Mauern der Strafanstalten, vor allem im berüchtigten Foltergefängnis Evin in Teheran, werden noch immer Tausende unrechtmäßig festgehalten. Journalistinnen, Demonstranten, Künstlerinnen und Künstler, Angehörige von Opfern. Sie sind der Willkür eines diktatorischen Systems ausgeliefert, vor dem es wenig Schutz gibt. Eines aber hilft doch ein wenig: Bekanntheit im Westen. Wir stellen Ihnen dreizehn vor.
Mehdi Yarrahi: angeklagt wegen "Störung der öffentlichen Meinung"
"Nimm Dein Kopftuch ab" heißt das Lied des Popsängers Mehdi Yarrahi. Der 41-Jährige engagiert sich seit Jahren für Frauen- und Menschenrechte, protestiert für Arbeiter und gegen Umweltverschmutzung. Das Ministerium für Kultur und islamische Führung hat ihn deshalb immer wieder mit Auftrittsverboten belegt. Am 28. August 2023 wurde Yarrahi verhaftet, am vergangenen Mittwoch angeklagt: unter anderem wegen "Störung der öffentlichen Meinung" und "Propaganda gegen den Staat".
Nasila Marufian: "Propaganda gegen den Staat"
Nasila Marufian hat nach Jina Mahsa Aminis Tod ein Interview mit dem Vater der jungen Frau veröffentlicht. Darin berichtete er unter anderem von einem Gerichtsmediziner, der ihm gesagt habe: "Ich werde schreiben, was immer im Interesse des Landes ist." Wegen "Propaganda gegen den Staat" wurde Marufian im November 2022 festgenommen und im Januar zu zwei Jahren Haft verurteilt. Mitte August auf Kaution freigelassen, wurde sie wenige Tage später erneut festgenommen: Sie habe gegen islamische Kleiderregeln verstoßen. In ihrer kurzen Zeit in Freiheit hat die Journalistin mehrfach Fotos von sich veröffentlicht, auf denen sie kein Kopftuch trägt.
Safa Aeli: von Sicherheitskräften verschleppt
Mindestens 72 Angehörige von Opfern haben die Behörden 2023 bis August festgenommen, laut Informationen der kurdischen Menschenrechtsorganisation Hengaw mit Sitz in Norwegen. Zu ihnen gehört Safa Aeli, ein Onkel von Jina Amini. Am 5. September fuhren Sicherheitskräfte mit mehreren Autos vor dem Haus der Familie vor und verschleppten den 30-Jährigen.
Omid Ghadimi: in Untersuchungshaft
Am 7. September später traf das selbe Schicksal Omid Ghadimi. Sein Bruder Foad war während der Proteste im vergangenen September von Kugeln der Regierung schwer verletzt worden und im Krankenhaus gestorben. Ghadimi befindet sich in Untersuchungshaft und hat keinen Zugang zu einem Anwalt.
Sepideh Gholian: "Khamenei, wir werden dich stürzen!"
Sepideh Gholian wurde im Februar 2017 zum ersten Mal festgenommen, vermutlich wegen ihrer Posts auf Instagram: Dort hatte sie unter anderem gegen zunehmende Kinderarbeit, Umweltverschmutzung und die Verhaftung politischer Aktivisten protestiert. Sie ist mehrfach gefoltert worden. 2020 wurde die Tiermedizin-Studentin ins berüchtigte Evin Gefängnis verlegt. Anfang Oktober 2022 kündigte sie gemeinsam mit elf weiteren weiblichen Gefangenen ein Sit-In an, um die landesweiten Proteste zu unterstützen. Am 15. März 2023 freigelassen, nahm sie vor den Gefängnistoren den Hijab ab und rief: "Khamenei, wir werden dich stürzen!" Sie wurde am nächsten Tag erneut festgenommen und ist seitdem in Haft.
Mahmonir Molaei-Rad: unter Hausarrest
Am 11. Juni 2023 wäre Kian Pirfalak zehn Jahre alt geworden. Er gilt als jüngstes Opfer der iranischen Behörden nach dem Mord an Amini. Seine Familie war am 16. November 2022 im Auto in Izeh unterwegs, als Sicherheitskräfte das Feuer auf das Fahrzeug eröffneten. Kian starb, sein Vater wurde schwer verletzt. Die Behörden verhafteten mehrere Protestierende für den Mord an Kian Pirfalak – seine Mutter Mahmonir Molaei-Rad aber hat öffentlich immer wieder die wahren Schuldigen benannt. Sie darf nicht mehr als Kunstlehrerin arbeiten und steht laut Amnesty International unter Hausarrest. Im Juni 2023 ermordete das Regime ihren Cousin, nach einem entsprechenden Post wurde ihr Instagram-Account deaktiviert .
Faezeh Haschemi: ehemalige Präsidentin des Iranischen Olympischen Komitees
Faezeh Haschemiist die Tochter des ehemaligen Präsidenten Akbar Haschemi Rafsandschani. Sie war selbst Abgeordnete, setzte sich für den Frauenradsport ein, war Präsidentin des Iranischen Olympischen Komitees und Herausgeberin der Zeitschrift San (Frau), die 1999 wegen ihrer feministischen Inhalte eingestellt werden musste. Die 60-Jährige wurde Ende Oktober 2022 festgenommen und sitzt seitdem im Evin-Gefängnis: Sie soll zu Protesten aufgerufen haben, in Iran eine Straftat.
Nilufar Hamedi und Elaheh Mohammadi: angeblich "ausländische Agentinnen"
Nilufar Hamedi (links) hat am 16. September 2022 ein Foto der trauernden Eltern von Jina Amini auf einem Krankenhausflur veröffentlicht, Elaheh Mohammadi mit als erste über den Mord berichtet und an der Beerdigung teilgenommen. Der Geheimdienst bezeichnet die beiden Journalistinnen als "ausländische Agentinnen", sie sind seit Oktober letzten Jahres inhaftiert. Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Iran auf Platz 177 von 180 Staaten.
Jamshid Sharmahd: zum Tode verurteilt
Jamshid Sharmahdkam mit sieben Jahren nach Deutschland und wuchs in Niedersachsen auf. Der Unternehmer baute unter anderem einen Exilradiosender auf und engagierte sich von Deutschland aus für Menschenrechte in Iran. Auf einer Geschäftsreise wurde Sharmahd 2020 aus Dubai entführt und 2022 in einem Schauprozess in Iran zum Tode verurteilt – wegen angeblicher Beteiligung an einem Bombenanschlag. Das Urteil wurde im April 2023 bestätigt, im Juli konnte seine Tochter Gazelle zuletzt mit ihm telefonieren. Der Deutsch-Iraner gehört zu einer Reihe ausländischer Bürger, die Irans Regierung als politische Geiseln benutzt.
Nasrin Sotudeh: verurteilt zu 148 Peitschenhieben und 33 Jahren Haft
Nasrin Sotudeh ist Journalistin, Anwältin und eine der bekanntesten Menschenrechtsaktivistinnen des Landes. 2020 erhielt sie den Alternativen Nobelpreis. Die heute 60-Jährige wurde seit 2010 immer wieder verhaftet und verurteilt, unter anderem wegen "sündhaftem Auftreten ohne Kopftuch", und hat in ihrer Zeit in Freiheit unter anderem Frauen vor Gericht verteidigt, die gegen den Hijab-Zwang protestiert hatten. 2018 verurteilte ein Gericht sie zu 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhiebe. Seitdem ist Sotudeh mehrfach in den Hungerstreik getreten und hat derzeit Hafturlaub aus medizinischen Gründen. Das Urteil besteht jedoch weiter, und der Hafturlaub kann jederzeit aufgehoben werden.
Jelveh Javaheri: Gleichberechtigung von Frauen
Die Journalistin und FrauenrechtlerinJelveh Javaheri ist seit 2007 mehrfach verhaftet worden. Sie gehört zu den Initiatorinnen der "Eine-Million-Unterschriften-Kampagne" für die Gleichberechtigung iranischer Frauen. Am 16. August 2023 wurde sie gemeinsam mit zehn anderen Aktivistinnen in der Provinz Gilan festgenommen. Zwei Tage später konnte sie mit ihrer Familie telefonieren, seitdem haben ihre Angehörigen nichts mehr von ihr gehört.
Forough Saminia: an einen unbekannten Ort verschleppt
DieFrauenrechtsaktivistin Forough Saminia wurde ebenfalls am 16. August 2023 festgenommen. Insgesamt stürmten die Sicherheitskräfte Wohnungen in vier Städten der Provinz, durchsuchten sie und nahmen die Bewohnerinnen mit an einen bisher unbekannten Ort. Die Offensive gegen die Frauen keinen Monat vor dem Jahrestag des Mordes an Jina Mahsa Amini soll vermutlich der Abschreckung dienen.