Die Holzmöbel sind zersplittert, die Dachbalken geborsten, Teile der Wand eingestürzt. Schutt, Müll und Wellblechreste pflastern den Boden. Es würde wohl Stunden dauern, bis Menschen sich durch das Chaos gearbeitet haben, auf das Rafiki blickt. Hier, unter den Trümmern, soll er einen Verschütteten finden. Geschickt zwängt er sich deshalb an der umgestürzten Waschmaschine vorbei, balanciert einen Haufen Steine empor und schlüpft dann zielstrebig in eine offen liegende Abwasserröhre. Denn Rafiki hat sein Ziel längst geortet: Sein feiner Geruchssinn leitet ihn. Schließlich ist er eine Riesenhamsterratte.
Die Nager sind kleiner als Spürhunde und können durch schmale Spalten klettern
Diese afrikanischen Tiere sollen künftig bei Naturkatastrophen helfen: Nach Erdbeben oder Tsunamis könnten sie Überlebende überall dort aufspüren, wo Suchhunde nicht hingelangen. Denn die Nager sind kleiner und können so auch durch schmale Risse und Spalten klettern, tief hinein bis ins Innere eines eingestürzten Hauses. Entdecken sie dort Verletzte, lösen sie einen kleinen Alarmknopf aus, den sie an einer speziellen Weste bei sich tragen. Sie senden so ihre Standortdaten. Hilfsmannschaften können sich dann gezielt einen Weg zu den Opfern bahnen – was wertvolle Zeit spart.

Ratten als Retter: Hinter dieser Idee steht die Organisation Apopo in Tansania. Auf ihrem Trainingsgelände in Morogoro, einer Stadt im Osten des Landes, schult sie Tiere wie Rafiki zu Notfallassistenten. "Sie sind klein, wendig und sehr neugierig", erklärt Verhaltensforscherin Danielle Giangrasso. Sie leitet das Projekt bei Apopo. Die Ausbildung der Tiere dort dauert mehrere Monate: Dabei durchstöbern sie zum Beispiel unterschiedliche Arten von Schutt oder lernen, sich auf ihre Suchmission zu konzentrieren. "Wir müssen wissen, ob sie motiviert bleiben oder sich leicht ablenken lassen – etwa vom Geruch einer zerschmetterten Küche, in der sie es sich gut gehen lassen könnten", so Giangrasso. Haben sie ihr Ziel gefunden, in Rafikis Fall einen Mitarbeiter von Apopo, der einen Verletzten nachahmt, werden die Tiere mit Erdnüssen belohnt oder dürfen ein Mus aus Bananen und Avocados naschen.
Riesenhamsterratten stammen aus afrikanischen Savannen und werden mehr als einen halben Meter groß
Insgesamt 300 Tiere leben in der Anlage in Morogoro, darunter auch einige im Ruhestand. Denn schon seit mehr als 20 Jahren trainiert Apopo Riesenhamsterratten. Diese Nager stammen aus den Savannen Afrikas und werden mehr als einen halben Meter groß. Ihr stark ausgeprägter Geruchssinn macht sie zu idealen Spürtieren: So erschnuppern sie zum Beispiel Sprengstoff oder Krankheitserreger. Weltweit konnte Apopo durch ihre Hilfe bereits 160.000 Landminen entschärfen, Krankenhäuser setzen die Hamsterratten außerdem im Kampf gegen Tuberkulose ein: Die Tiere können etwa 300 Speichelproben pro Stunde untersuchen. Menschen schaffen am Mikroskop nur 20 pro Tag. An Tests von einer halben Million Menschen haben die Nager von Apopo schon gerochen.

Nun ist die nächste Hilfseinheit der belgischen Organisation fertig ausgebildet: die Rescue-Rats, die Rettungsratten. Sie sollen bei Notlagen in der Türkei eingesetzt werden. Das Land wird immer wieder von schweren Erdbeben erschüttert, zuletzt im Februar 2023. Damals starben mehr als 50.000 Menschen, mehrere Tausend Gebäude fielen in sich zusammen. In solche Trümmer klettern künftig auch Rafiki und seine Artgenossen und tragen dabei eine winzige Kamera und Audiogeräte auf ihrem Rücken. So können sich Rettungsdienste ein Bild vom Inneren der eingestürzten Häuser machen und auf mögliche Hilferufe von Verschütteten lauschen. Über die Mikrofone können sie zudem mit den Verletzten sprechen.
Noch sei aber unklar, wie diese reagieren, wenn sie von Hamsterratten aufgespürt werden, betont Projektleiterin Giangrasso: Optisch ähneln die Nagetiere sehr großen Ratten – und die haben bei Menschen nicht den besten Ruf. Möglicherweise entwickeln manche Katastrophenopfer also zusätzlich Panik, wenn sie die Tiere auf sich zu laufen sehen. Deshalb will die Hilfsorganisation, die weltweit in Kriegs- und Krisenregionen aktiv ist, noch stärker über ihre tierischen Begleiter aufklären. Dass Spürhunde bei Katastrophen helfen, fänden Menschen völlig normal, sagt Giangrasso. "Es wäre schön, wenn wir Hamsterratten in Zukunft einmal ähnlich akzeptieren."
An Flughäfen könnten ausgebildete Hamsterratten Schmuggelware finden
Denn Apopo hat noch ein weiteres Einsatzgebiet für sie im Sinn: Flughäfen. Dort könnten die Hamsterratten Schmuggelware finden, etwa Souvenirs aus bedrohten Tier- und Pflanzenarten. Den Geruch von Elfenbein und Nashorn-Horn erkennen sie bereits, auch auf das vom Aussterben bedrohte Schuppentier und auf Afrikanisches Schwarzholz ("Ebenholz") hat Apopo seine Nager bereits trainiert. Die Flughafenbehörde Tansanias hat schon Interesse an den fertig ausgebildeten Schnüfflern angemeldet.

Sie könnten das Geschäft von Wilderern zudem auch an Häfen empfindlich stören. Denn die Hamsterratten klettern geschickt in jeden entlegenen Winkel von Schiffen und Containern, besser als Fahnder und ihre Hunde. Die deutsche Entwicklungshilfeorganisation GIZ unterstützt Apopos Trainingsprogramm gegen Wildtier-Schmuggel.
Und die Hamsterratten zeigen noch weitere Vorteile gegenüber Spürhunden: Weil sie sich nicht so stark auf ihre Trainer prägen, können sie von Apopo ausgebildet und dann problemlos an andere Halter abgegeben werden, etwa an Zollbeamte. Auch ihre Zucht und Haltung ist unkompliziert, das Futter günstig. Überlegen sind Hunde den Hamsterratten allerdings in stark bewachsenem Gelände: Dort finden sie Landminen deutlich schneller.
In seinem Camp in Morogoro hat Apopo deshalb neue Trainingseinheiten gebildet: für Spürhunde.