Artenschutz Freiheit für den Ozelot: Von dieser Frau lernen Katzen das Überleben in der Wildnis

  • von Martin Zinggl
Samantha Zwicker und Ozelot
Zwicker liebt Katzen, und Ozelote besonders. Die promovierte Biologin weiß um die wichtige Rolle, die die Tiere im Ökosystem des Urwalds spielen, und treibt ihre Auswilderung mit fürsorglicher Strenge voran
© Angela Ponce für GEO
Tief im Regenwald von Peru hat die Biologin Samantha Zwicker ein Rehabilitationszentrum aufgebaut. Hier lernen Wildtiere, die in Gefangenschaft lebten, sich im Dschungel zu behaupten

Flug LA 2264 landet aus Lima mitten im peruanischen Amazonas-Tiefland. Am Flughafen von Puerto Maldonado hieven zwei Männer eine Holzkiste mit Luftlöchern aus der Maschine in einen klapprigen Van, pferchen sie zwischen Jutesäcke, Bananenstauden, Kanister und Kartons. Aus dem Inneren der Truhe kratzt und faucht es. Stundenlang holpert das Vehikel über Buckelpisten, umkurvt Schlaglöcher und Risse in der roten Erde. Vorbei an Papaya-Plantagen, vorbei an castañeros, die mit Paranüssen prall gefüllte Säcke schleppen, vorbei an Lastwagen, die illegal gerodetes Holz transportieren. Aus dem Radio dudelt der fröhliche Viervierteltakt von peruanischem Chicha.

Bis Lucerna wird die Holzkiste beschallt. In dem 200-Seelen-Dorf münden die letzten Meter befahrbaren Pfades in den Fluss Las Piedras. Es riecht nach Kakao. Hier quaken Frösche, brüllen Affen, kreisen Aras um die Kronen der Baumriesen. Hier wartet eine großgewachsene Frau, tätowierte Arme, strohblonde Locken, auf die Ankunft der weit gereisten Fracht. Samantha Zwicker leuchtet mit ihrer Stirnlampe durch eines der Löcher in der Holzkiste. Es stinkt nach Durchfall, sie atmet erleichtert auf. "Fast geschafft, honey", flüstert sie, "du bist in Sicherheit!"

Hände heben einen Ozelot
Der verschreckte Ozelot hört Zwickers Stimme zum ersten Mal. "Fast geschafft, honey", flüstert sie, "du bist in Sicherheit"
© Angela Ponce für GEO

Der verschreckte Ozelot im Inneren des Käfigs hört Zwickers besänftigende Stimme zum ersten Mal. Für andere Wildtiere war die 33-Jährige schon Begleiterin auf dem Weg in ein anderes Leben, ein besseres. Seit zehn Jahren hilft Zwicker im peruanischen Regenwald Wildtieren beim Überleben. Sie ist Tierschützerin, besitzt einen Doktortitel in Quantitativer Ökologie und gründete 2015 das Rettungs- undRehabilitationszentrum Hoja Nueva: Lateinamerikas erste und einzige Rettungsstation für Karnivoren, die aus illegaler Gefangenschaft wieder in ihr ursprüngliches Habitat zurückkehren sollen.

"Sie sieht schwach aus", sagt Zwicker besorgt über den Ozelot in der Kiste. "Sie schafft das", antwortet Dylan Singer, 28, Zwickers Verlobter und zweiter Leiter der Organisation. Der Kanadier und die Amerikanerin kommen nicht gerade wie Umweltschützer daher, eher wie die Heavy-Metal-Variante von Barbie und Ken: tätowiert von Kopf bis Fuß, Camouflage-Hosen, Dr.-Martens-Schuhe, schwarze Shirts, Piercings, Fleshtunnel in den Ohren und dicke Ringe an den Fingern. Dreck unter den Nägeln, Narben an Armen und Beinen: Beides verdanken sie dem Urwald.

Die Rehabilitation der Tiere ist mit großem Aufwand verbunden

Um die beiden herum: Gewusel, ein Dutzend Menschen aus zehn Ländern. Freiwillige, die Praktika bei Zwicker absolvieren, um über das Leben im Dschungel zu lernen, Gehege für die Tiere zu bauen, für Diplomarbeiten zu recherchieren. Biochemiker von der Universität Cambridge, die vor Ort ein Labor aufbauen. Veterinärinnen und Biologen, die sich am Naturschutz beteiligen. Das Team von Hoja Nueva verlädt rund 600 Kilogramm Fleisch und anderes Tierfutter, Lebensmittel und Baumaterialien aus dem Van in einen Kahn. Zuletzt heben Zwicker und Singer die Holzkiste samt Katze in das Boot. Singer blickt zum Steuermann: "Let’s rock ’n’ roll!"

Dylan Singer und Samantha Zwicker in einem Boot
Samantha Zwicker leitet Hoja Nueva gemeinsam mit ihrem Verlobten Dylan Singer (l.). Über Land führt keine Straße, man gelangt nur mit dem Boot ans Ziel
© Angela Ponce für GEO

Das Boot tuckert über die ockerbraune Schlammsuppe, schlängelt sich durch den nachtdunklen Urwald. Nur der Halbmond leuchtet schwach durch die Wipfel. Samantha Zwicker öffnet einen Umschlag, der mit der Holzkiste geliefert wurde, fischt Dokumente heraus und liest im Lichtkegel ihrer Stirnlampe: Ozelot, Weibchen, jugendlich, dehydriert und unterernährt, konfisziert aus einem Privathaushalt. Die Kleinkatze ist eines von über 100 000 Wildtieren, vom Halsbandpekari bis zum Jaguar, die Perus Forst- undTierschutzbehörde SERFOR in den vergangenen 20 Jahren beschlagnahmt hat. Ihre "Besitzer": Wilderer, Holzfäller, Goldsucher. Meist töten sie die Muttertiere, um mit den Jungtieren zu handeln und ihren Eltern das Fell abzuziehen. Der Baby-Ozelot in der Holzkiste wurde monatelang bei einer Familie im Norden des Landes als mascota gehalten, als Haustier. Nachdem der SERFOR die Kleinkatze konfisziert hatte, gab es drei Optionen: Zoo, Einschläfern oder Rehabilitation. Letzteres ist mit großem Aufwand verbunden, darum schrecken viele Rettungsstationen davor zurück. Insbesondere, wenn es sich um Fleischfresser handelt.

Doch Raubtiere sind für das Gleichgewicht der Ökosysteme unerlässlich, und Ozeloten kommt für Mittel- undSüdamerika wohl eine Schlüsselrolle zu. Ihre Anwesenheit, vom Süden der Vereinigten Staaten bis zum Norden Argentiniens, wirkt sich wesentlich auf die Population anderer Kleinkatzen aus. Ozelote vertreiben oder töten ihre Konkurrenz im Kampf um Nahrungsressourcen und halten so deren Zahl im Zaum. Sie fungieren als Förster der Fauna und tragen nicht zu Unrecht den Ehrennamen "Könige der Kleinkatzen in Amerika". Verschwinden Ozelote aus dem ökologischen Kreislauf, wachsen die Populationen von Colocolo, Kleinfleckkatze, Jaguarundi, Langschwanzkatze, Nördlicher und Südlicher Tigerkatze überproportional, und in der Fauna der jeweiligen Region entsteht ein Ungleichgewicht. Einige Wissenschaftler nennen das: Ozelot-Effekt.

Baby-Ozelot in einer orangen Schüssel
Baby-Ozelote kann man bequem in einer Plastikschüssel wiegen. Ausgewachsene Tiere werden bis zu einen Meter lang und zwölf bis 15 Kilogramm schwer
© Angela Ponce für GEO

Nach einer halben Stunde erreicht das Boot die Forschungsstation, mitten im Dickicht: unberührte Wildnis, eine Fläche so groß wie die Insel Borkum. Es riecht modrig nach der Fäulnis der Tropen. Hier teilt sich die Gruppe: Während die Mitarbeiter ausschwärmen und die Waren in das Haupthaus und zu den Baracken schleppen, tragen Zwicker und Singer den rumpelnden Käfig tiefer in den Dschungel.

Im Gelände stehen großräumige Gehege, darin jeweils ein Tier

An ihren Körpern kleben Insekten, Zikaden zirpen schrill, es regnet Blätter. Mittlerweile ist es stockfinster. Trotzdem zeigt das Thermometer 33 Grad Celsius, bei 97 Prozent Luftfeuchtigkeit. Plötzlich Jaguargebrüll. Zwicker tangiert das nicht. "Einer von unseren", sagt sie. Verstreut über das Gelände liegen großräumige Gehege, von Ranken und Blattwerk zugewachsen. In jedem nur ein Tier: Jaguar, Puma, Wickelbär, Tapir, Langschwanzkatze, Nördliche Tigerkatze, Jaguarundi und natürlich Ozelot, insgesamt 79 Individuen, von denen die meisten auf ihre Auswilderung warten. Hier finden Neuankömmlinge ein Zuhause auf Zeit, wenn sie alt genug und keine Babys mehr sind.

Die große GEO Story: Ab 12. September auf RTL+ und am 19. September um 20:15 Uhr bei RTL
© RTL
Die große GEO Story: Ab 12. September auf RTL+ und am 19. September um 20:15 Uhr bei RTL

Der neue Ozelot ist noch zu klein, muss außerdem erstuntersucht werden und dann für Wochen in Quarantäne, um keine Parasiten auf die anderen Wildtiere zu übertragen. Schließlich erreichen Zwicker und Singer das Khan Rewilding Center, eine Blockhütte, die als Krankenstation, Futterküche, Büro und Fitnessraum dient. Drinnen grunzt aufgeregt ein Baby-Nabelschwein, aus einem Nebenraum dringen unruhige Laute: Die Jungtiere in ihren Käfigen riechen den Neuankömmling. Durch die Löcher in der Kiste blickt der gerettete Ozelot in Zwickers grüne Augen und faucht. "Oh, Baby", lächelt diese, "wir werden noch Besties. Versprochen!"

Samantha Zwickers Zuversicht speist sich aus Erfahrung. In den vergangenen drei Jahren hat Hoja Nueva über 200 Wildtiere aufgenommen, mehr als die Hälfte davon sind bereits ausgewildert. Dylan Singer zieht ein Buschmesser aus seinem Gürtel, bricht damit das Vorhängeschloss auf. Es dauert, bis sich der Ozelot aus der Kiste tastet. Er dehnt seinen Körper, erschnuppert die neue Umgebung, leicht verwirrt. Singer nimmt die Kleinkatze in beide Hände, und umgehend untersuchen Zwicker und zwei Veterinärinnen das Tier. Sie überprüfen Tatzen, Zähne und Augen, tasten Geschlecht und Darm ab, suchen nach Flöhen und anderen Parasiten. "Du siehst großartig aus", sagt Zwicker, während der Baby-Ozelot an ihren Gummihandschuhen knabbert, seinen Kopf an ihre Hände schmiegt. Und dabei schnurrt wie eine Hauskatze.

Dylan Singer hält einen kleinen Alligator
Alles begann mit den Ozeloten. Aber mittlerweile wildern Singer und Zwicker auch andere Tiere aus, etwa Kaimane oder Jaguare
© Angela Ponce für GEO

Dann wird das Junge gewogen: 3,2 Kilogramm, reichlich für einen drei bis vier Monate alten Ozelot. "Sie wird jedenfalls ein großes Mädchen", sagt Zwicker zufrieden. Nach wenigen Minuten ist der Tumult vorbei. Das Tier bekommt Hühnerschenkel und einen eigenen Käfig, dann geht das Licht aus. Der Baby-Ozelot soll nach der strapaziösen Reise ungestört ankommen.

Menschen wird er zukünftig nur aus zwei Gründen sehen: Futter und medizinische Notfälle. Ansonsten meiden Zwicker und ihr Team die Gehege – das wichtigste Credo ihrer Rehabilitation.

Stufenweise Vorbereitung auf eine Auswilderung

Bei Hoja Nueva werden die konfiszierten Tiere nicht sofort in der Natur abgesetzt. "In Gefangenschaft lebende Tiere haben nie gelernt, zu jagen und in freier Wildbahn zu überleben", sagt Zwicker, "viele davon würden binnen kürzester Zeit verhungern oder selbst gefressen werden. Sie kennen ja ihre natürlichen Gegner nicht." Gemeinsam haben Singer und sie das Rehabilitationsprogramm von Zwickers Organisation im Jahr 2021 erweitert. Mitunter finden nun auch Reptilien und Pflanzenfresser in Hoja Nueva ein Zuhause auf Zeit, bevor sie in den Wald zurückkehren. Zwicker folgt einem Plan, den sie selbst entwickelt hat: Sie bereitet die Tiere stufenweise auf die Rückkehr vor.

Kranke oder verletzte Tiere werden gesund gepflegt. Oder doch eingeschläfert. Für einige wenige, die keine Chance mehr auf Auswilderung haben, gibt es eigene Gehege. Ihnen fehlen Krallen, Zähne oder andere Körperteile, die sie zum Überleben in der Wildnis bräuchten. Unterernährte Tiere werden aufgepäppelt: Sie bekommen Nahrung, die sie später im Wald an Geruch, Aussehen und Geschmack wiedererkennen, angereichert mit Nahrungsergänzungsmitteln. Am wichtigsten: gezähmte Tiere vom Menschen zu entwöhnen und ihren Jagdinstinkt zu wecken.

Tierfutterlieferung wird aus einem Auto geladen
Ein Wagen fährt Tierfutter und andere Fracht zur Anlegestelle, hier werden die Boote voll bepackt. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt nach Hoja Nueva über den Fluss
© Angela Ponce für GEO

Enrichment, Bereicherung, nennt Zwicker das Futtertraining und meint das Anstiften zum Jagen: Fleisch, auch Lebendfutter, wird versteckt oder so platziert, dass die Tiere für die Mahlzeit klettern oder springen müssen.

Schließlich werden die Tiere, nun überlebensfähig, fernab der Forschungsstation entlassen. Abhängig von Art, Alter und Verfassung dauert dieser Prozess zwischen wenigen Wochen und zwei Jahren. Das Team dokumentiert jeden Schritt bis ins kleinste Detail, von der Ankunft bis zur Auswilderung und – mithilfe von Peilsendern – darüber hinaus. Manchmal ist auch die Öffentlichkeit mit dabei.

So geschehen 2022, als Zwicker mehr Aufsehen erregte, als ihr lieb war. Damals erschien die Dokumentation "Wildcat", in der neben Zwicker vor allem ihr Ex-Freund Harry Turner über das Gelände von Hoja Nueva läuft: ein schwer traumatisierter Kriegsveteran, der Lebenssinn darin findet, einen kleinen Ozelot auf seinem Weg zurück in die Natur zu begleiten, während er mit Nervenzusammenbrüchen kämpft.

Rührend ja, aber Turners persönliche Bindung zu dem Ozelot überschreitet jede Grenze respektabler Auswilderungsarbeit. Der distanzlose Umgang zwischen Mensch und Tier mag unumgänglich sein für die Dramatik des Films. Für Zwickers wissenschaftliche Reputation jedoch war er eine Katastrophe. Noch während der Dreharbeiten trennte sie sich von Turner und stieg aus dem Projekt aus. Die Dokumentation wurde dennoch fertiggestellt, mit Zwicker als Nebenfigur – und gewann in den USA den renommierten Emmy als beste Naturdokumentation. "Das Scheinwerferlicht und der Preis haben uns natürlich geholfen, Gelder für unsere Mühen um den Naturschutz zu akquirieren", sagt Zwicker, "aber wir sind immer noch dabei, unseren Ruf wiederherzustellen. Nein: Wir sind kein Streichelzoo." Nicht von ungefähr zeigt der Bildschirmhintergrund ihres Handys ihre Promotionsurkunde.

Rio Las Piedras
Endloses Grün und das braune Band des Rio Las Piedras: Die Rettungsstation liegt in der Region Madre de Dios. Auf einer Fläche größer als Bayern leben nur knapp 140 000 Menschen
© Angela Ponce für GEO

Dort leuchtet am nächsten Tag eine Nachricht: "Wir haben Kot eines wilden Jaguars gefunden! Interesse?" Absender: ShitExpress, eine der zahlreichen Whatsapp-Gruppen in Hoja Nueva. Ein auszuwilderndes Jaguarweibchen ist brünftig und hat einen männlichen Verehrer aus dem Dschungel gelockt. Kamerafallen vor ihrem Gehege zeigen Bilder seines mittlerweile täglichen Besuchs. Nun hat ein Tierpfleger seinen Auswurf entdeckt. Für Zwicker ein Geschenk: In den letzten Jahren konnte sie gerade mal zwei Stuhlproben wilder Jaguare untersuchen.

Keine Stunde später stochert sie bereits nach unverdauten Beuteresten: Zehennägel eines Baby-Nabelschweins, Hautfetzen eines Nasenbären, Haare eines Brüllaffen. Als sich ihre Funde unter dem Mikroskop zu erkennen geben, lächelt sie zufrieden. Und ist doch erstaunt. "Kaum zu glauben, aber über die Ernährung von Jaguaren in Peru gibt es so gut wie keine wissenschaftlichen Daten", sagt Zwicker. "Bisher!" Sie fotografiert die Ergebnisse.

Einer Blaupause über das erfolgreiche Auswildern von Karnivoren?

Danach berät sie sich mit den Biochemikern aus Cambridge. Im Labor analysieren der Deutsche Timo Kohler und Maximilian Gantz aus Österreich das Darm-Mikrobiom unterschiedlicher Wildkatzen, um neue Gene und Bakterienspezies für die Biotechnologie zu entdecken.

Die Analyse hilft Zwicker auch bei ihrer Auswilderungsarbeit, denn Kohler und Gantz können auch im Dschungel die DNA der Stuhlprobe in einer Zentrifuge extrahieren und das Metagenom des wilden Jaguars sequenzieren. Die Wissenschaftler wollen in den nächsten Monaten herausfinden, wie sich das Mikrobiom der Wildkatzen verändert, wenn die Tiere in Hoja Nueva auf ihre Auswilderung vorbereitet werden. Und ob sich die Wild-DNA mit jener der auszuwildernden Jaguare womöglich angleicht: Das würde zeigen, dass sich die Tiere an den Regenwald anpassen und dort überleben können, und wäre ein wissenschaftlich handfester Beweis, dass Zwickers Methode der Auswilderung funktioniert.

liegender Jaguar auf einem Baum
Auch Jaguare werden in Hoja Nueva ausgewildert. Und sind Forschungsobjekte: Per DNA-Vergleich will das Team ermitteln, wie die Genstruktur der gefangenen Tiere sich von jener ihrer wild lebenden Artgenossen unterscheidet
© Angela Ponce für GEO

Damit käme sie ihrem Ziel näher: einer Blaupause über das erfolgreiche Auswildern von Karnivoren. Zwicker schreibt an einem Handbuch, um ihre Methode anderen Rettungszentren zur Verfügung zu stellen; an einem anderen Standort im peruanischen Regenwald, vielleicht sogar in einem Nachbarland oder, im Idealfall, eines Tages in der ganzen Neotropis, der Region, die Mittel- undSüdamerika und die Westindischen Inseln umfasst. Überall dort, wo Karnivoren in Gefahr sind.

Für Raubtiere interessierte sie sich schon als junge Frau, sie wollte das Verhalten und Leben von Wölfen studieren, sich für ihren Schutz in den USA einsetzen. Doch bald merkte sie, dass sie gegen bürokratische Windmühlen ankämpfte.

Seitdem hat Zwicker das Vertrauen in Behörden verloren, ihre Tierliebe hingegen blieb. "Geht es um Tiere, ist Sam wie ein kleines Kind mit einem großen Herzen", sagt Singer über seine Verlobte, "aber sie hat den Geist einer Wissenschaftlerin." Jeder Abschied, von jedem Tier, fällt ihr schwer. Auch weil sie weiß, dass nicht jedes ausgewilderte Tier durchkommen wird.

Unter Tränen erzählt Zwicker von Loki, einer Langschwanzkatze, deren Tattoo großflächig auf ihrem linken Unterarm prangt. Ein paar Monate nach der Auswilderung wurde Loki gefunden, totgebissen von einem wilden Ozelot. Mehr als zwei Jahre Arbeit und Herzblut, radikal beendet durch das Gesetz der Natur. Bis heute macht sich Zwicker Vorwürfe, hinterfragt, welcher Teil ihres Programms fehlgeschlagen ist. Andererseits lernen sie und ihr Team aus Rückschlägen, tagtäglich.

Am nächsten Nachmittag rücken Zwicker, Singer und drei Tierärztinnen zu einem Spezialauftrag aus. Die Gruppe marschiert in den wilden Teil des Rehabilitationszentrums, vorbei an den Gehegen, die in etwa 100 Meter Abstand zueinander im Dickicht liegen. Im ersten Käfig erwürgt eine fünf Meter lange Anakonda in Zeitlupe eine Ente. Im nächsten stupsen zwei Mitarbeiterinnen einen 300 Kilogramm schweren Schwarzen Kaiman mit einem Ast, um ihn aus seinem Versteck zu treiben. Im dritten Käfig baumelt ein gerupftes Huhn an einer Schnur von der Decke. Mit einem Satz hechtet ein Puma auf die Beute zu und schnappt nach ihr.

Nach zwei Dutzend weiteren Käfigen ist die Gruppe vor einem Gehege angekommen. Apollo, der mittlerweile dreieinhalbjährige Ozelot, ist bereit: Nach anderthalb Jahren in Rehabilitation soll er ausgewildert werden. Doch zuvor muss er einen Gesundheitscheck ertragen, ein schwieriges Unterfangen, für das Tier, auch für das Team. Das Gewicht der Wildkatze können die Veterinärinnen nur schätzen, die Berechnung der Betäubungsmitteldosis ist ein Stück weit Glückssache.

Team in Hoja Nueva
In Hoja Nueva arbeiten etwa ein Dutzend Menschen aus zehn Ländern. Und auch wenn die zentrale Blockhütte nach Zeltlager aussieht – hier wird ernsthafte Wissenschaft betrieben
© Angela Ponce für GEO

Aus Singers Blasrohr zischt ein Pfeil, der genug Ketamin für ein Tier mit 13,5 Kilogramm enthält, und bohrt sich in Apollos Gesäß. Der Ozelot schreckt auf, blickt auf sein Hinterteil, dreht sich im Kreis, schnuppert am Fremdkörper. Singer verlässt Apollos Sichtbereich.

Minuten vergehen, in denen sich Zwicker auf die Lippen beißt: "Ich setze die Tiere wirklich ungern diesem Stress aus." Nach einer Viertelstunde sieht eine Veterinärin nach der Kleinkatze. "Schummrig, aber noch bei Bewusstsein." Warten. Drei Minuten später: "Immer noch."

Zwicker blickt verunsichert zu Singer. Der nickt: "Wir müssen nachlegen." Zwicker schnauft, notiert ins Logbuch: 0,50 Milliliter Ketamin extra. "Jedes einzelne Tier lehrt uns etwas Neues", sagt sie. Sofort zieht die Veterinärin eine neue Spritze auf. Nach zehn weiteren Minuten liegt Apollo auf einer Unterlage vor seinem Gehege, eine Binde um die Augen, ein Pulsoxymeter an der Zunge. Mindestens sechs Hände arbeiten nun flink: Temperaturmessung, Blutabnahme, Stuhl- undUrinproben, Bleichen der Schwanzspitze, um das Tier auf Kamerafallen erkennen zu können. Wiegen: 13,9 Kilogramm, das Team hat sich um 400 Gramm verschätzt. Zuletzt legt Zwicker dem Ozelot einen Peilsender um den Hals. In einem Jahr wird das Gerät per Fernauslöser abfallen. Bis dahin wird es Informationen liefern: Wo und was jagt die Katze, wie groß ist ihr Bewegungsradius? Die Daten werden in eine umfangreiche Sammlung einfließen: GPS-Koordinaten, Hunderte Dokumente, Tausende Zeilen in Excel-Listen, Hunderttausende Fotos der Kamerafallen entlang der Urwaldpfade. Digitale Bausteine für Zwickers künftige Blaupause.

Eine halbe Stunde später kommt der Ozelot langsam zu sich. Zwicker atmet auf. Bald wird Apollo zurückkehren in sein ursprüngliches Habitat, weit weg von der Zivilisation. Er wird über Blattwerk und Wurzeln steigen, durch Schlamm und Rinnsale waten. Seine eigenen Wege bahnen, jagen und sich vermehren. Er wird Samantha Zwicker vergessen.

Erschienen in GEO 10/2024