Genetik Schützende Myelinschicht: Wie Viren die Evolution von Gehirnen beeinflusst haben

Oligodendrozyten (grün) produzieren eine elektrisch isolierende Myelinschicht, die Axone umhüllt. Die Gensequenz, die diesen Vorgang steuert, hat ihren Ursprung in einer Infektion mit Retroviren
Oligodendrozyten (grün) produzieren eine elektrisch isolierende Myelinschicht, die Axone umhüllt. Die Gensequenz, die diesen Vorgang steuert, hat ihren Ursprung in einer Infektion mit Retroviren
© Peggy Assinck, Altos Labs-Cambridge Institute of Science
Viren gelten als Krankheitserreger und schädlich. Evolutionär waren manche jedoch nützlich: Sie formten Gensequenzen, die Gehirne komplexer wachsen ließen – und sorgten damit für mehr Vielfalt in der Tierwelt 

Viren haben einer Studie zufolge zur Entstehung komplexer Gehirne und zur Vielfalt der Wirbeltiere beigetragen. Bei der Analyse von Hirnzellen stieß ein britisch-französisches Forschungsteam auf eine Gensequenz, die die Bildung der Myelinschicht maßgeblich reguliert. Diese schützende Hülle umgibt die Fortsätze von Nervenzellen (Axone) und ermöglicht, dass Signale besonders schnell weitergeleitet werden.

Die Gensequenz RNLTR12-int stamme von Infektionen mit Retroviren, berichtet die Gruppe um Tanay Ghosh und Robin Franklin vom Cambridge Institute of Science im Fachblatt "Cell". Sie reguliert demnach bei allen großen Klassen der Wirbeltiere die Bildung des Basischen Myelinproteins (MBP), des wichtigsten Proteins der Nervenumhüllung. 

Generell bauen Retroviren, dazu zählt etwa der Aids-Erreger HIV, ihr genetisches Material in das Erbgut ihrer Wirtszelle. Handelt es sich bei dieser um eine Keimzelle, werden sie als sogenanntes endogenes Retrovirus (ERV) weitervererbt.

Myelin ist wichtig: Es umhüllt die Nervenzellen und lässt sie schmaler werden

Auf RNLTR12-int, die Forschenden nennen die Gensequenz RetroMyelin, stieß das Team nun bei genetischen Untersuchungen von Oligodendrozyten: jenen Zellen im Zentralen Nervensystem, die Myelin produzieren. Dabei untersuchten die Forschenden auch sogenannte Retrotransposone. Dies sind im Genom überaus häufige Genabschnitte, die im Lauf langer Zeiträume ihre Position im Erbgut verändern konnten und Ähnlichkeiten zu Retroviren aufweisen.

Versuche an Nagetieren zeigten, dass RetroMyelin die MBP-Herstellung reguliert. Ohne diese Gensequenz wurde das Protein nicht gebildet. Weitere Untersuchungen bestätigten, dass die Gensequenz auch bei Fröschen und Zebrafischen für die Bildung von Myelin wichtig ist – und damit für die Umhüllung der Nervenzellen.

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Viren haben keinen Stoffwechsel, sie bewegen sich nicht aktiv, sie fressen nicht. Ihr einziges Ziel ist es, Nachkommen hervorzubringen. Dafür benötigen sie die Hilfe anderer Organismen, etwa des Menschen – und können ihn dabei töten. Aber sie spielen auch eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Lebens

Diese sogenannte Myelinisierung ermöglichte demnach unter anderem, dass die Axone schmaler werden konnten. Somit fanden mehr Nervenzellen auf engerem Raum Platz. Dies sei eine Voraussetzung für die Entwicklung komplexerer Gehirne, betont die Gruppe. Und weil auch längere Axone möglich wurden, konnten Organismen größer und damit vielgestaltiger werden. Zudem ermöglichte die schnellere Reizleitung raschere Reaktionen im Verhalten, etwa bei der Jagd oder der Flucht.

Die Forschenden fanden RetroMyelin nur bei Tieren mit Kiefern

"Retroviren waren dafür nötig, dass die Evolution der Wirbeltiere durchstartete", wird Studienleiter Franklin in einer Pressemitteilung zitiert. "Ohne den Einbau der Retroviren-Sequenzen in das Wirbeltier-Genom hätte es keine Myelinisierung gegeben, und ohne Myelinisierung gäbe es die uns bekannte Vielfalt von Wirbeltieren nicht."

Aus Untersuchungen an 22 Spezies erstellte das Team eine Art RetroMyelin-Stammbaum. Er deutet darauf hin, dass verschiedene Tiergruppen die Gensequenz unabhängig voneinander erwarben und beibehielten.

Kurios ist allerdings, dass die Forschenden RetroMyelin nur bei den Wirbeltier-Klassen mit Kiefern – Fischen, Reptilien, Amphibien, Vögeln und Säugern – fanden, nicht aber bei den Kieferlosen (Agnatha) wie etwa Neunaugen. Möglicherweise seien die Gensequenzen bei dieser Gruppe nicht im Erbgut fixiert worden und verloren gegangen, heißt es zur Erklärung. Zwar haben auch kieferlose Tiere Umhüllungen der Nervenfasern, diese seien aber weniger kompakt und böten viele Vorteile nicht, schreibt die Gruppe.

Allgemein aus der Medizin bekannt ist Myelin in Zusammenhang mit Multipler Sklerose. Bei dieser Autoimmun-Erkrankung greifen Immunzellen die Myelinhüllen der Nervenfasern an. Das kann unter anderem zu Empfindungsstörungen, Sehproblemen und Muskellähmungen führen. 
 

Walter Willems