GEO: Herr Kramer, unsere Gesellschaft ist heute vermutlich so offen und liberal wie nie zuvor. Warum fällt es queeren Menschen zum Teil dennoch schwer, offen zu sich selbst zu stehen?
Jochen Kramer: Sie entsprechen nun einmal nicht der Norm. Festzustellen, dass man anders als die allermeisten anderen Menschen ist, irritiert, verunsichert, verstört vielleicht sogar. Denn es stellen sich grundsätzliche Fragen: Wo gehöre ich dazu? Welche Konsequenzen hat es, nicht dem Mainstream zu entsprechen? Wem kann ich mich verbunden fühlen? Es ist nicht trivial, sich zu seinem Anderssein zu bekennen.
Aber viele, gerade jüngere Menschen streben doch genau danach: anders zu sein, besonders.
Ja, aber nicht derart tiefgreifend. Sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sind nichts, was man wählt oder anstrebt. Sie sind Teil unserer selbst und offenbaren sich uns, oft im Laufe der Pubertät. Man sollte nicht unterschätzen, wie erschütternd dann das Gefühl sein kann, aus dem Rahmen zu fallen. Nicht wenige fühlen sich falsch, unpassend, isoliert, sind beschämt. Da kann man nicht einfach sagen: Ah okay, alles gut, weiter geht’s. Die Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der anderen ist da nur ein nachgelagerter Aspekt. Zuvorderst geht es darum, dieses Anderssein für sich und vor sich selbst bejahen zu können.