Es war ein sonderbares Bild: Im Sommer 2023 beobachteten Forschende vor der Südküste Islands ein bisher unbekanntes Verhalten – eine Gruppe von Schwertwalen, bekannt für ihre komplexen sozialen Strukturen und vielfältigen Jagdstrategien, zog stundenlang mit einem neugeborenen Pilotwalkalb durchs Meer, ohne dass andere Pilotwale in der Nähe waren.

Tonaufnahmen von einem am Meeresboden verankerten Hydrofon bewiesen nämlich, dass Pilotwale Stunden vor und Stunden nach jener Begegnung Laute von sich gaben – jedoch nicht während der beobachteten Interaktion. Schwertwale hingegen waren über 24 Stunden akustisch fast durchgehend präsent.
Das Kalb blieb stets neben oder zwischen den Orcas, wurde zeitweise von unten gestützt und hielt sich oft in einer "Echelon-Position" neben einem weiblichen Schwertwal auf – eine Formation, die normalerweise bei Mutter und Kalb beobachtet wird und bei der das Jungtier dicht neben der Mutter etwa in Höhe der Rückenflosse schwimmt.
Am folgenden Tag kehrte dieselbe Orcagruppe an den Ort der Begegnung zurück, doch der junge Pilotwal war verschwunden. Trotz intensiver Beobachtungen wurde er nicht wieder gesichtet. Was also trieb dieses Miteinander an? War es Spiel, Übung, soziale Fürsorge – oder gar eine Form bizarrer, nicht-tödlicher Aggression? Jetzt veröffentlichte das Team dazu eine Publikation.
Was zunächst wie ein freundliches Zusammensein wirkte, wirft für die Forschenden bei näherer Betrachtung Fragen auf. Begegnungen zwischen Schwertwalen und anderen Walarten sind häufig konflikthaft – oder auch tödlich: Schwertwale jagen hin und wieder kleinere Zahnwale, darunter auch Pilotwale. In Island selbst wurde ein solcher Fall bisher jedoch nur einmal dokumentiert.
Könnte es sich um Spiel gehandelt haben?
Doch in diesem Fall sprechen mehrere Indizien gegen eine tödliche Räuber-Beute-Geschichte. Die Schwertwale dort gelten als Fischspezialisten – sie jagen Heringe, auch genau zu der Zeit ihres Rendezvous mit dem Pilotwalkalb. Zudem wies das Jungtier keinerlei Verletzungen oder Anzeichen von Stress auf, was man bei einer Jagd erwarten würde.
Stattdessen erinnern einige der beobachteten Verhaltensweisen – das Stützen des Kalbs, das Schwimmen in enger Formation – an Fürsorge, wie sie Orcas oder auch Delfine gegenüber verletzten, toten oder hilfsbedürftigen Artgenossen an den Tag legen. Zuwendungen, die auch unter nicht verwandten Tieren belegt sind.
Aber auch andere Hypothesen stehen zur Debatte: Könnte es sich um Spiel gehandelt haben? Oder diente das Verhalten dem sozialen Lernen oder der Einübung gemeinsamer Beutezüge? Schwertwale jagen oft in komplexen Bewegungsabläufen, bei denen Beute – etwa Heringe – durch koordiniertes Verhalten zusammengetrieben wird. Nutzten die Orcas das Kalb also als "Trainingsobjekt"? Das lässt sich bisher nicht beantworten.
Bemerkenswert ist: Solche Interaktionen von Schwertwal und Pilotwal-Nachwuchs sind bisher nur aus isländischen Gewässern bekannt. Zwei weitere dokumentierte Begegnungen, wenige Jahre zuvor, legen nahe, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Sondern um eine möglicherweise gängige Verhaltensweise.
Fest steht auch: Das Miteinander dieser beiden Arten ist vielfältiger als bislang angenommen – und könnte unser Verständnis des Ökosystems Meer verändern.