Vor mir auf dem Tisch liegen fünf Stoffproben, ich will mein Sofa neu beziehen. Ich habe meine Standardfarbe ausgewählt, verwaschenes Blaugrau in verschiedenen Schattierungen, die Entscheidung ist nur noch eine Formalie. Wäre da nicht das fünfte Stoffquadrat, das ich aus einer Laune heraus mitbestellt habe: karamellfarbener Breitcord. Ein völlig aus der Zeit gefallener Stoff, von der Farbe ganz zu schweigen – tiefste Seventies, Schlaghosenmaterial, Partykeller-Look.
Und doch wandern meine Blicke ständig dorthin, und doch nehme ich das Quadrat immer wieder in die Hand. Und doch wird jetzt in vier Wochen ein irritierend karamellfarbener Bezug geliefert, und mein Sofa wird bekleidet mit Erinnerungen an weggedämmerte Nachmittage in meinem Jugendzimmer Mitte der siebziger Jahre.
Plötzlich wird der köstliche Duft hektografierter Schularbeitsblätter in meine Nase steigen, ich werde das Kratzen eines Geha-Füllers in einem Ringbuch zu hören glauben, in den Fingern das befriedigende Klack spüren, mit dem ich einen Plastikstern in das Mittelloch einer frischgekauften Single presse (David Bowie? Suzi Quatro? Stevie Wonder?), auf der Zunge den Geschmack eines Raider, das damals noch nicht Twix hieß. Ich werde auf diesem Sofa dahintreiben wie in einem Rettungsboot, verloren in Gedanken an eine Zeit, als die Gegenwart beruhigend überschaubar schien und die Zukunft noch ihren Namen verdiente. Yesterday, all my troubles seemed so far away.
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Nostalgie? Absolut. Gegenwartsflucht? Schon schwieriger zu beantworten, wenn die Gegenwart dieser Tage aus so viel Rückblick zu bestehen scheint, aus so vielen Zitaten, Versatzstücken und Wiederauflagen von Vergangenem.