Er hätte bis New York reisen können. Zwischen Southampton und Irland findet eine reiche Familie Gefallen an dem jungen Mann mit der Kamera und will ihm die weitere Überfahrt bezahlen. Doch der Provinzial der Jesuiten in Dublin telegrafiert streng: "Kommen Sie von dem Schiff runter", und so muss Francis Browne im irischen Queenstown (heute Cobh) von Bord gehen. Es setzt ohne ihn die Jungfernfahrt fort, das größte Schiff der Welt, der Stolz der White Star Line: die "Titanic".
Brownes Name wird trotzdem bald untrennbar mit ihr verbunden sein – er hat die letzten erhaltenen Bilder an Bord des Unglücksschiffes gemacht, rund 80 Stück in zwei Tagen. Männer im Fitnessraum, Flaneure an Deck, das einzige Foto der Funkstation, die letzte Aufnahme des Kapitäns.
Und seine eigene Kabine, mit dem eleganten Toilettentisch, dem mit Pferdehaar gepolsterten Sofa, dem Knopf über dem Bett, mit dem er einen Stewart rufen kann. Luxuriöser kann man zu dieser Zeit nicht auf den Weltmeeren reisen: Francis Brownes Onkel, der Bischof von Cloyne, hat ihm ein Ticket erster Klasse geschenkt.
Unbeschwertes Leben an Bord
Am Morgen des 10. April 1912 besteigt der 32-jährige Jesuit in der Waterloo Station von London den "Titanic Special", einen von zwei Sonderzügen, der die Passagiere des Ozeandampfers nach Southampton bringt. Der begeisterte Amateurfotograf verliert keine Zeit, dokumentiert die Zugfahrt, das Einschiffen von Menschen und Gepäck, den Schlepper "Neptun", der hilft, das große Schiff zu drehen, als es gegen 12 Uhr ablegt nach Cherbourg.
In Frankreich nimmt die "Titanic" weitere Passagiere auf und dampft dann Richtung Irland, Brownes Heimat. Er macht das Beste aus seiner kurzen Zeit an Bord.
Würdevoll blicken die Offiziere in die Kamera, doch die meisten Menschen auf Brownes Bildern sind unbeschwert. Der sechsjährige Robert Douglas Spedden spielt auf dem Promenadendeck mit einem Kreisel, ein Ehepaar macht einen Morgenspaziergang und lächelt dem Fotografen zu.

Technik fasziniert Browne, alles, was dampft, brummt oder verkabelt ist. Er besucht mit seiner Kamera die Funkkabine, den "Marconi-Raum" – benannt nach dem italienischen Erfinder, dessen Unternehmen auf diesem wie auf anderen Schiffen Telegraphenstationen betreibt. Der Funker, den der Jesuit bei der Arbeit fotografiert, verschickt wahrscheinlich gerade private Telegramme. Doch auch die Notsignale in den letzten Stunden der "Titanic" werden von hier ausgehen. Und dafür sorgen, dass überhaupt Menschen gerettet werden.
Für Francis Browne ist die Fahrt in Queenstown zu Ende. Am 11. April ankert das Schiff vor dem irischen Hafen, nimmt erneut Passagiere auf. Browne fotografiert die Schlepper, die letzte Postsäcke an Bord bringen. Dann besteigt er eine Barkasse und kehrt an Land zurück. Sein letztes Foto dieser Reise zeigt die "Titanic", wie sie Richtung New York davondampft.

Vier Tage später, am 15. April 1912, sinkt sie. Mehr als 1500 Menschen sterben, darunter der Trainer, den Browne auf einer Rudermaschine fotografiert hat, und einer der beiden Funker aus dem Marconi-Raum.
Schlagartig wird der Jesuitenpater berühmt. Die letzten Fotos der "Titanic" erscheinen weltweit in den Zeitungen. Niemals sehen mehr Menschen Brownes Bilder, dabei hat seine Laufbahn als Fotograf noch gar nicht richtig begonnen.
1880 in Cork als jüngstes Kind einer wohlhabenden Familie geboren, hat Browne als 17-Jähriger die Liebe zur Fotografie entdeckt, auf einer Europareise mit seinem älteren Bruder. Nach seiner Rückkehr wurde er Jesuit und begann sein Studium der Altertumskunde an der Universität Dublin, wo James Joyce zu seinen Kommilitonen zählte.

In Chieri bei Turin studierte er Philosophie und in seiner Freizeit die italienischen Meister, deren Bildaufbau und Linienführung sich später in seiner Fotografie niederschlagen. Nach seinem kurzen Ausflug auf der "Titanic" setzt er sein Theologiestudium in Dublin fort, empfängt 1915 seine Weihen, wird im Ersten Weltkrieg für Tapferkeit ausgezeichnet und mehrfach verwundet, reist später nach Australien, um seine von Giftgas geschädigten Lungen zu kurieren – da ist er von seiner Kamera längst nicht mehr zu trennen.
Erst nach seiner endgültigen Rückkehr 1925 entsteht Brownes Hauptwerk. In den nächsten drei Jahrzehnten fotografiert er fast jeden Aspekt irischen Lebens: Pilger, alte Klöster, führende Persönlichkeiten, Zeitungsjungen, Torfschneider. Allein rund 5000 Bilder entstehen auf den Straßen Dublins und halten die Seele dieser Stadt im Wandel der ersten Jahrhunderthälfte fest. Der Jesuit hat alles, was einen großen Fotografen ausmacht: Zu seinem in Italien geschulten Auge kommt ein Gespür für den richtigen Augenblick und spürbarer Respekt für die Abgebildeten. Besonders Kindern begegnet der Pater mit der Kamera auf Augenhöhe: dem Jungen, der einen noch kleineren Knirps zum Briefkasten hochhebt; drei Mädchen bei einer Teeparty auf dem Bürgersteig; einer Gruppe bei einer Partie Cricket.

Auch nach der Schiffskatastrophe bleibt seine Faszination für Technik und Fortschritt. Er macht einen Flugschein, um Dublin von oben zu fotografieren, besucht die Kodak-Werke in England, und er erhält einen Filmvorrat auf Lebenszeit.
Seine Bilder erscheinen im "Kodak Magazin" und in vielen irischen Zeitschriften, rund 1000 Pfund verdient er mit ihnen, das Geld fließt in die Ausbildung jesuitischer Studenten. Doch als Pater Browne 1960 stirbt, sind er und seine Arbeit bereits fast vergessen – und bleiben es ein Vierteljahrhundert lang.

1985 wird das Wrack der "Titanic" entdeckt. Im selben Jahr macht auch ein Pater in Dublin eine sensationelle Entdeckung - im Keller, nicht auf dem Meeresboden vor Neufundland: Er stößt im Jesuitenhaus auf einen großen, schwarzen Schrankkoffer aus Metall. Fotografien liegen darin und sorgfältig beschriftete Negative, die meisten auf sich zersetzenden Zelluloidfilmen.
Doch Francis Brownes Erbe wird restauriert und gerettet. Heute gilt er als einer der großen Fotografen des 20. Jahrhunderts, auf einer Stufe mit Henri Cartier-Bresson. Der Fund, schreibt ein Redakteur der "Sunday Times", sei "vergleichbar mit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer". Im Koffer auch: ein Album, in das Browne seine Bilder aus dem April 1912 geklebt hat. "Der erste und letzte Titanic Special" hat er neben die Bilder von der Waterloo Station geschrieben, und auf die letzte Seite: "In Erinnerung an die Toten."
Die Titanic-Bilder von Francis Browne finden sich auch in dem Buch "Travelling on Titanic – with Father Browne", herausgegeben von EE O’Donnell SJ (Messenger Publications, 144 S., 25€).
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