Wunder von Bern Gegen Ungarn zum Titel: "1954 herrschte die klassische 'David gegen Goliath'-Situation"

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Szene im Strafraum, bei der der ungarische Torhüter versucht im Sprung an den Ball zu kommen
Als Außenseiter reiste die Nationalmannschaft der Bundesrepublik im Sommer 1954 zur Fußballweltmeisterschaft in die Schweiz. Und schaffte es tatsächlich ins Finale, in dem eine der besten Mannschaften der Welt als Gegner wartete – die Auswahl Ungarns, deren Torwart sich hier in der 18. Minute vergebens nach dem Ball reckt, um eine Flanke abzufangen. Sekunden später gelang dem Deutschen Helmut Rahn der Ausgleich zum 2:2
© Keystone / akg-images
Nach einem verlorenen Spiel gegen Ungarn in der Vorrunde traf die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft im Finale der Weltmeisterschaft von 1954 erneut auf denselben starken Gegner – und gewann. Der WM-Sieg wurde als "Wunder von Bern" gefeiert. Doch welche gesellschaftliche Bedeutung entfaltete der überraschende Titelgewinn in der jungen Bundesrepublik? Der Sporthistoriker Ansgar Molzberger erklärt, wie der Triumph neues Selbstbewusstsein weckte – und alte Ängste schürte

GEOEPOCHE: Herr Dr. Molzberger, der WM-Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, das "Wunder von Bern" am 4. Juli 1954, wird oft als "eigentliches Gründungsdatum" der Bundesrepublik bezeichnet. Warum?

Dr. Angar Molzberger: Dass der WM-Sieg 1954 der "eigentliche Gründungsakt" der Bundesrepublik gewesen sei, hört man immer wieder. Dabei geht die Bezeichnung auf eine missverständliche Verkürzung zurück. Sie wird dem Historiker Joachim Fest zugeschrieben, der wörtlich einmal von "drei Gründungsvätern" der Republik gesprochen hatte: Für den politischen Bereich nannte er Konrad Adenauer, für den wirtschaftlichen Ludwig Erhard und für den mentalen Bereich den 1954er-Mannschaftskapitän Fritz Walter. Daraus ist die verkürzte Beschreibung vom WM-Sieg als "eigentlichem Gründungsakt" entstanden und hat sich verselbstständigt. Eine solch staatstragende Wahrnehmung des Erfolgs hatten die Menschen 1954 aber nicht.

Was hat der WM-Titel dann in der Gesellschaft bewegt?

Erschienen in GEO Epoche Panorama "Jahrestage 2024" (2023)