Anthropologie Schnittspuren an Schienbein: Waren unsere Vorfahren Kannibalen?

Ansicht eines Schienbeins eines Homininen
An diesem fast 1,5 Millionen Jahre alten Schienbein-Fossil aus Kenia haben Forschende markante Schnittspuren gefunden. Der Knochen stammt von einem frühen Vorläufer des Homo sapiens
© Jennifer Clark / picture alliance
Forschende haben auf einem fast 1,5 Millionen Jahre alten Schienbeinknochen eines Frühmenschen Schnittspuren entdeckt. Sie deuten den Fund als Hinweis auf Kannibalismus. Haben sich Hominine gegenseitig verspeist oder gibt es eine andere Erklärung?

Frühe Ahnen des Menschen könnten Kannibalen gewesen sein. Diesen Verdacht legen markante Schnittspuren auf einem fast 1,5 Millionen Jahre alten Schienbeinknochen nahe. US-amerikanische Forscher betonen jedoch im Fachblatt "Scientific Reports", es seien noch zu viele Fragen unbeantwortet, um sicher sagen zu können, dass sich frühe Hominine wirklich gegenseitig verspeisten.

Eigentlich hatte die Paläoanthropologin Briana Pobiner vom National Museum of Natural History in Washington nach Hinweisen gesucht, welche prähistorischen Raubtiere urzeitliche Verwandten des Menschen gejagt und verspeist haben könnten. Bei ihrer Recherche in der Sammlung des Nationalmuseums von Kenia stieß sie 2017 auf den versteinerten, 1,45 Millionen Jahre alten Schienbeinknochen eines frühen Vorläufers des Homo sapiens. Zum Vergleich: Der moderne Mensch ist etwa 300.000 Jahre alt.

Schnitte wurden durch Steinwerkzeuge verursacht

Als Pobiner den Knochen untersuchte, entdeckte sie mehrere Schnittspuren, die sie an die Spuren von Steinwerkzeugen erinnerten. Abdrücke davon schickte sie an Michael Pante von der Colorado State University – ohne ihm ihren Verdacht zu verraten. Pante verglich 3D-Scans jener Abdrücke mit Einträgen in einer Datenbank zu verschiedenen Arten von Abdrücken.

Die Analyse kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Neun der elf Spuren an dem Schienbeinknochen passten tatsächlich zu jener Art Schäden, die durch Steinwerkzeuge verursacht werden. Die beiden übrigen rührten möglicherweise von Bissen einer Großkatze her, vermutlich von einer der drei bekannten Arten von Säbelzahnkatzen, die zu Lebzeiten des Individuums durch die Landschaft streiften.

Verzehr als das "wahrscheinlichste Szenario"

Wie Pobiner betont, bedeuten die Schnittspuren allein noch nicht, dass ihr Verursacher sich an dem Bein gütlich getan habe. Dies sei allerdings das wahrscheinlichste Szenario. So befänden sich die Kratzer an jener Stelle, wo der Wadenmuskel mit dem Knochen verbunden sei – und damit an einer guten Position, um das Fleisch abzulösen. Auch seien alle Schnitte gleich ausgerichtet, was darauf hindeute, dass eine Hand sie mit einem Steinwerkzeug nacheinander verursacht habe, ohne den Griff oder den Winkel zu verändern.

Vergrößerte Ansicht des Schienbeins, auf dem Schnittspuren zu sehen sind
Insgesamt haben die Forschenden elf Schnittspuren an dem Knochen gefunden. Neun davon sollen von Steinwerkzeugen verursacht worden sein
© Jennifer Clark / picture alliance

"Diese Schnittspuren sehen jenen sehr ähnlich, die ich auf Tierfossilien gesehen habe, die für den Verzehr verarbeitet wurden", beschreibt Pobiner in einer Mitteilung der Smithsonian Institution, die das Museum betreibt. "Es scheint sehr wahrscheinlich, dass das Fleisch dieses Beins gegessen wurde."

Doch auch wenn diese Vermutung stimmen sollte, könnte streng genommen noch nicht von Kannibalismus gesprochen werden. Denn es ist völlig unklar, ob in diesem Fall Esser und Gegessener der gleichen Art angehörten. Zum einen lässt sich der versteinerte Knochen keiner konkreten Homininen-Spezies zuzuordnen. Zum anderen lasse auch die Verwendung von Steinwerkzeugen keine eindeutigen Rückschlüsse darauf zu, welche Art damit hantiert haben könnte.

Mit anderen Worten: Bei dem Fossil könnte es sich einerseits um einen Nachweis für prähistorischen Kannibalismus handeln. Ebenso sei aber möglich, dass eine Spezies ihren evolutionären Cousin verspeist habe, so das Forschungsteam.

Die Schnittspuren verraten auch nicht, was damals genau passiert ist: So könnte eine Großkatze die Überreste gefunden haben, nachdem Hominine das meiste Fleisch vom Knochen gelöst hatten. Ebenso ist denkbar, dass das Raubtier das Individuum tötete, bevor Hominine die Gelegenheit nutzten und die Beute übernahmen.

Schon 1999 hatten Forscher im Fachblatt "Science" über möglichen Kannibalismus unter Neandertalern vor etwa 100.000 Jahren im Rhônetal berichtet. Für eine Kontroverse sorgten Kratzspuren auf einem 1,5 bis 2,6 Millionen Jahre alten Schädel, der 1976 in Südafrika gefunden wurde: Zunächst wertete eine 2000 veröffentlichte Studie die Spuren als Beleg dafür, dass frühe Hominine die Überreste eines anderen Homininen zerlegt hatten. 2017 schrieben dagegen andere Forscher, die Spuren seien durch Kontakt mit scharfkantigen Steinen entstanden, die am Schädel lagen.

Eben diesen Schädel würde Pobiner nun gerne mit den gleichen Techniken wie in der aktuellen Studie untersuchen. Dies könnte die Frage klären, ob das jüngst untersuchte Schienbein tatsächlich das älteste Frühmenschen-Fossil mit Schnittspuren ist. "Die Informationen, die wir haben, sagen uns, dass Hominine wahrscheinlich vor mindestens 1,45 Millionen Jahren andere Hominine gegessen haben", fasst Pobiner zusammen.

Alice Lanzke, dpa