Hinter einer riesigen Plattenkamera, halb versteckt unter einem Tuch, das den rückwärtigen Lichteinfall verhindern soll, sitzt in den späten Dezembertagen des Jahres 1922 ein Mann mit Hut, weißem Hemd und Fliege. Viele Meter unter der Erde, in einer 3245 Jahre alten Grabkammer, ist er damit beschäftigt, das Bild einer Epoche aufzuzeichnen, von der man bis vor wenigen Tagen nur vage oder gar keine Vorstellungen hatte. Es sind die Bilder dieses Fotografen, die von nun an die Welt an der sagenhaften Entdeckung des Tutanchamun-Schatzes teilhaben lassen – die Bilder Harry Burtons.
Kurz zuvor ist in New York ein Telegramm aus Kairo eingetroffen. Nach Jahren der Suche hat der Forscher Howard Carter ein Grab entdeckt, das es nach gängiger Wissenschaftsmeinung gar nicht geben kann. Da der Brite vor der gewaltigsten Dokumentationsaufgabe steht, der sich je ein Archäologe hat stellen müssen, hat er das Metropolitan Museum of Art in Manhattan, bekannt für seine hervorragende Aegyptiaca-Sammlung, um Unterstützung gebeten. Und der Kurator der ägyptischen Abteilung hat ihm daraufhin telegraphisch die Dienste seines Hausfotografen angedient: „Erfreut, in jeder Weise zu helfen. Bitte über Burton und jeden andern unseres Stabes zu verfügen.“
Am 18. Dezember macht Burton in der Vorkammer des Pharaonengrabes seine ersten Bilder. Und wird so für die nächsten elf Jahre Teil einer Geschichte, die, so notiert die Schwester des Projektförderers Lord Carnarvon später, „wie Aladins Wunderlampe anfängt und wie eine griechische Sage der Nemesis endet“.
Grab des Tutanchamun: Vergessen und von Plünderern übersehen
Die Zeit der großen Entdeckungen im Tal der Könige erscheint da eigentlich schon lange vorbei. In den drei Jahrtausenden zuvor haben hier zahllose Interessierte gegraben: Grabräuber, Priester, Forscher. Das Tal ist voller aufgetürmter Schuttberge zwischen freigelegten Gräbern. Jedes Sandkorn, so könnte man meinen, ist bereits mehrfach gesiebt worden. Howard Carter aber zeigt sich unbeirrt. Er will einer Ahnung nachgehen, die sich aus kleinen, scheinbar unbedeutenden Funden seines Kollegen Theodore Monroe Davis nährt.
Der hat vor Jahren unter einem Felsen einen Fayencebecher mit dem Namen des Pharao Tutanchamun entdeckt – dazu unweit davon einige Tonsiegel und in einem Schachtgrab einen zerbrochenen hölzernen Kasten, dessen goldene Beschläge ebenfalls den Namen dieses Königs trugen. Davis ist daher zu dem Schluss gekommen, der Schacht müsse das Grab des Königs sein.
Carter sieht das anders. Im Herbst 1917 will er bis hinunter auf den Felsen graben und steckt dafür zunächst ein großes dreieckiges Feld ab – markiert durch die Gräber von Ramses II., Merenptah und Ramses VI., die jeweils etwa 60 Meter Luftlinie auseinanderliegen. Am Fuß des geöffneten Grabes von Ramses VI. stößt er sehr schnell, wie er später schreibt, „auf eine Reihe von Arbeiterhütten, die auf einer Menge großer Feuersteinknollen errichtet waren, wie sie im Tal immer ein Zeichen für die Nähe eines Grabes sind“.
Doch weil Touristen weiterhin der Besuch des Grabes von Ramses VI. ermöglicht werden soll, entscheidet sich Carter, erst die Restfläche des dreieckigen Feldes Schicht für Schicht abzutragen.
Geheimnisvolle Stufen führen zur Grabkammer des Pharaos
Die Jahre vergehen, doch die Ausbeute ist äußerst gering. Nach langem Zögern beschließt der Brite, einen letzten Winter im Tal zu verbringen. Diesmal gräbt er am Fuß des Grabes von Ramses VI. weiter – an jener Stelle, die er fünf Jahre zuvor verlassen hat. Und er entdeckt unter dem Fundament der ersten Arbeiterhütte eine Steinstufe im Felsen. Dann weitere Stufen. Als die zwölfte Stufe hervortritt, wird „der obere Teil einer verschlossenen, mit Mörtel bestrichenen und versiegelten Tür sichtbar", so Carter.
Er steht am Eingang zum reichsten Königsgrab, das Archäologen je in Ägypten entdecken werden. Schnell lässt er die Tür öffnen, räumt Schutt aus einem 7,60 Meter langen Gang, stößt auf eine zweite versiegelte Tür und steht schließlich in einer Vorkammer. Grabräuber, die auch hier schon gewesen sind, haben offenbar nur einen Bruchteil der Kostbarkeiten entwendet.
Am 18. Dezember 1922 macht der herbeigerufene Harry Burton in der Vorkammer die ersten Übersichtsaufnahmen. Was er durch sein Objektiv sieht, mutet an wie ein Traum: eine unermessliche Fülle von Gold und Edelsteinen, ein goldener Thronsessel, goldene Bahren, Alabastervasen, bizarre Tierköpfe und zwei große schwarze Statuen mit der goldenen heiligen Schlange an ihrer Stirn. Und dazwischen eine weitere versiegelte Tür.
Carter vermutet dahinter weitere Kammern, doch er entschließt sich, langsam vorzugehen. Schon zuvor hatte er das Grab schließen lassen, um etwa den Rat von Sachverständigen einzuholen, die besten Konservierungsmöglichkeiten zu erörtern oder seine technische Ausrüstung zu erweitern.
Auch muss erst in der Vorkammer die Lage jedes einzelnen Gegenstandes dokumentiert werden. Für Auswertung und Freilegung des Fundes sind Fachleute aus aller Welt in das Tal geströmt. Nie zuvor hat es in der Geschichte der Wissenschaft eine so beispielhafte internationale Zusammenarbeit gegeben.
Harry Burton gehört mit elf weiteren Spezialisten zum Kern der Ausgrabungsmannschaft. In einem Essay für die „New York Times“ schreibt er: „Wenige Menschen erkennen die Wichtigkeit der Fotografie bei der archäologischen Spurensuche, aber ohne sie wäre vieles Bedeutende vollständig verloren, und manche Details wären niemals aufgefallen.“ In Carter, der als schwierig und aufbrausend gilt, hat er einen geduldigen Förderer, der über die Arbeit schreibt: „Das Wichtigste war die Fotografie.“
Harry Burton, begabter Fotograf und Improvisator, begleitet die Ausgrabungen
So pendelt Burton mit seinen beiden ägyptischen Assistenten nun ständig zwischen Königsgrab, seinem Laboratorium im Grab von Sethos II. und einer behelfsmäßigen Dunkelkammer im benachbarten Grab Nr. 55. Seine Arbeit ist zeitraubend, verzögert den Fortgang der Ausgrabungen oft für Stunden oder Tage. Der Mann aus New York hantiert mit einer riesigen Kamera und Negativplatten aus Glas, die mit lichtempfindlichen Emulsionen beschichtet sind. Burton liebt die großen Platten im Format 18 mal 24 Zentimeter und sieht keine Vorteile in kleineren Glasplatten.
Doch die Arbeit mit den großen Platten ist schwierig: Schon bei geringfügigen Abweichungen werden die Bilder über- oder unterbelichtet. Probleme bereitet auch die Entwicklerflüssigkeit, die konstant kühl gehalten werden muss – doch die Temperaturen der ägyptischen Sommer bringen nicht selten die Gelatine auf den Platten zum Schmelzen.
Für jedes Motiv stellt er eine Reihe von Probe-Negativen her, um die korrekte Belichtung zu testen. Danach, so Burtons knappes Understatement, „muss nichts weiter getan werden, bis das Bild entwickelt ist und für zufriedenstellend erklärt wird“ – dabei ist er der Einzige in seiner Branche, der Objekte präzise und ohne Verzerrungen abbilden kann, fein in Zeichnung und Detail und mit überwältigender Gleichmäßigkeit des Lichts. Zudem ist er ein großer Improvisator.
So hat er bei früheren Ausgrabungen ein Spiegelsystem entworfen, das ihm erlaubt, ohne Blitz zu arbeiten – ein immenser Vorteil, weil es die Brandgefahr vermindert und weil kein Pulverdampf von Magnesiumblitzen die Räume mehr verqualmt. Mit einem großen Spiegel reflektiert ein ägyptischer Assistent draußen vor dem Grabeingang das Sonnenlicht über eine Distanz von über 30 Metern ins Innere der Grabanlage, wo ein zweiter, manchmal gar ein dritter Assistent mit weiteren Spiegeln das Licht in den zu fotografierenden Raum umleitet.
Dort wirft ein mit Silberpapier umwickelter Reflektor das Licht auf das Zielobjekt. Und dieser Reflektor wird ständig bewegt. So wird die Ausleuchtung sehr gleichmäßig – die Fotos der Objekte sind ungewöhnlich scharf und nahezu schattenfrei. „Painting with light“ nennt Burton diese Technik. Im gut zugänglichen Grab Tutanchamuns aber kann er mit Scheinwerfern arbeiten, was ihn „sehr erleichtert“.
Zur Ägyptologie ist er durch Zufall gekommen. 1879 im englischen Lincolnshire als fünftes von elf Kindern geboren, gerät er über einen Freund nach Florenz, wo er lange Zeit vorwiegend Gemälde ablichtet. Dort lernt er den reichen amerikanischen Kunstsammler Theodore Monroe Davis kennen, der den Engländer für die Dokumentation seiner Ausgrabungen im Tal der Könige engagiert. Davis gräbt zwölf Winter lang und entdeckt in dieser Zeit so aufschlussreiche Gräber wie die des vierten Thutmosis, des Siptah, des Haremhab und der Königin Hatschepsut. 1914 muss er wegen seiner angeschlagenen Gesundheit die Grabungsarbeit aufgeben. Im gleichen Jahr wird Burton offizieller Fotograf des New Yorker Metropolitan Museum.
Mitte Februar 1923 ist die Vorkammer ausgeräumt. Wenig später rollen die ersten 34 schweren Packkisten mit einer Feldeisenbahn hinunter zum Nil – wohl die gleichen anderthalb Kilometer, die sie 3245 Jahre zuvor in umgekehrter Richtung in feierlicher Prozession heraufgebracht worden sind. Noch hat Carter die Mumie nicht gefunden. Auch ist es schwer vorstellbar, dass noch größere Kostbarkeiten entdeckt werden könnten.
Doch als sie in der Vorkammer die bisher versiegelte Tür zwischen den Wächterfiguren öffnen, stoßen sie auf eine Wand aus Gold: In dem Raum hinter der Tür steht der wohl kostbarste Totenschrein, den je ein Wissenschaftler erblickt hat. Rechts davon ist ein Durchgang, der zur eigentlichen Schatzkammer führt – mit Truhen, die mit Kostbarkeiten gefüllt sind. Der Schakalgott Anubis thront auf einem hölzernen Podest und bewacht den vergoldeten Kanopenschrein, dessen vier Schutzgöttinnen so viel Erbarmen ausstrahlen, dass man, wie Carter später notiert, „das Anschauen fast als Entweihung empfand“. Als sie drei Stunden später in den Tag hinaustreten, erscheint Carter „das Tal selbst verändert und in einem besonderen Licht“.
Das Herzstück der Grabkammer wird geborgen - der Sarkophag des Tutanchamun
Doch die nächsten Monate vergehen fast ungenutzt: Lord Carnarvon, der Finanzier der Expedition, stirbt im April 1923, und durch Streitigkeiten mit der Regierung verzögern sich die Arbeiten. Im Januar 1924 macht Burton ein Bild von Carter, wie der sich erwartungsvoll an der offenen Tür des zweiten Schreins duckt. Denn nachdem die Archäologen die Flügeltüren des ersten Schreins geöffnet hatten, entdeckten sie darin einen zweiten. In diesem steht ein dritter und darin ein vierter Schrein, noch prächtiger als die vorhergehenden.
Und: Im vierten Schrein stoßen Carter und seine Männer auf den Sarkophag, der aus einem einzigen Block gelben Quarzits geschlagen und mit einer zwölf Zentner schweren Granitplatte bedeckt ist. Als sie die Platte entfernen, entdecken sie unter Leinentüchern drei ineinanderliegende Mumiensärge, deren Oberfläche jeweils aus einem goldenen Abbild des Herrschers besteht, der in gekreuzten Händen Krummstab und Wedel trägt – die königlichen Insignien.
Der dritte und letzte Sarg besteht aus massivem Gold: zweieinhalb bis dreieinhalb Millimeter stark und 225 Kilogramm schwer. Als sie den Deckel öffnen, erleben die Forscher die einzige Enttäuschung ihrer Grabung: Ein Übermaß an Salböl hat die Mumie fast vollständig zerstört. Die oxidierten Harzbestandteile des Öls haben die sterblichen Überreste des Königs bis auf die Knochen zerfressen. Lediglich die Füße und die Goldmaske über dem Gesicht sind von der schwarzen Masse frei.
Die goldene Totenmaske des jungen Königs wird eines von Burtons berühmtesten Motiven. Er fotografiert sie, als fertigte er das Studioporträt eines Lebenden an. Als Hintergrund nimmt er ein großes Stück Pappe, das er in einem halbzylindrischen Bogen nahtlos um das Objekt legt. Alle von Burton erhaltenen Bilder der Maske zeigen das Gesicht des jungen Königs ohne die Reflexionen, die sonst auf hochpoliertem Metall unvermeidlich sind. Stattdessen hat die Maske eine fast hautartige Qualität.
Wie kam der Effekt zustande? Zufällig hatte Burton beobachtet, wie die Konservatoren in ihrem mobilen Labor eine dünne Schicht warmes Paraffin auf die Maske des Tutanchamun auftrugen, um die Lapislazuli-Intarsien zu festigen und Trübungen im Metall zu entfernen. Burton erkannte seine einmalige Chance, lichtete den Kopfschmuck in diesem Zustand ab und zauberte so aus einer toten Maske ein beinahe lebendiges Gesicht.
Tutanchamun: Wie sein Tod ihm Weltruhm brachte
Wer war Tutanchamun, dieser Mann mit dem erhabenen Antlitz? Ein nur kurz herrschender Pharao (wohl von 1333–1323 v. Chr.). In seiner Kindheit war er, wie sein Vater, der „Ketzerkönig“ Echnaton, ein Anbeter des Sonnengottes Aton, kehrte nach seiner Thronbesteigung aber zur alten Religion um den Reichsgott Amun zurück. Er änderte auch seinen Namen: Aus Tutanchaton wurde Tutanchamun.
Carter notiert: „Soweit unsere Kenntnisse heute reichen, können wir mit Gewissheit sagen, dass das einzig Bemerkenswerte in seinem Leben darin bestand, dass er starb und begraben wurde.“ Und der Archäologie-Romancier C.W. Ceram bemerkt: „Diese Wahrheit zwingt zu einer Folgerung: Wenn dieser Pharao mit solchem, alle abendländischen Vorstellungen übersteigenden Prunk bestattet wurde, mit welchen Grabbeigaben mögen dann Ramses der Große und Sethos I. in ihre Gräber geleitet worden sein?“ Anders als bei Tutanchamun haben Räuber dort alles entwendet.
1932 werden die letzten Kisten von Luxor nach Kairo geschafft. Von Carters Mitarbeitern der ersten Stunde sind da nur noch der Konservator Alfred Lucas und Harry Burton dabei. 14 000 Negative hat der Fotograf während seines Aufenthalts in Ägypten belichtet, allein 2800 im Grab des Tutanchamun. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges kommen viele Ausgrabungen zum Erliegen, die Zeit der großen Expeditionen ist vorerst vorbei. Auch eine Ära der Fotografie geht damit zu Ende.
Am 27. Juni 1940, gut ein Jahr nach dem Tod seines Mentors Howard Carter, stirbt auch Harry Burton, Carters Auge und Gedächtnis. Der erste und bisher einzige Fotograf, der es je zu archäologischem Weltruhm gebracht hat.