Kaum ein anderer Moment im Jahr bietet ein solches Feuerwerk an Traditionen: Manch einer trägt rote Unterwäsche zum Jahreswechsel, andere essen zwölf Trauben für die Glockenschläge um zwölf Uhr und wieder andere drücken den Geliebten einen dicken Kuss auf den Mund. Doch woher stammt die Tradition, sich um Mitternacht zu küssen?
Es gibt viele Erklärungen für den Brauch des Neujahrskusses, doch der genaue Ursprung dieses intimen Rituals ist unbekannt. Eine Theorie besagt, dass dieser seine Wurzeln bereits in der Antike hat. Zu Ehren von Saturn, dem Gottes der Landwirtschaft und der Ernte, feierten die Römer vor mehr als tausend Jahren die Saturnalien - ausgelassene, mehrtägige Feste zur Wintersonnenwende aus Essen, Tanzen, Spielen, Trinken und Küssen. Die antiken Autoren schreiben nicht explizit vom Mitternachtskuss, aber sie dokumentieren die Saturnalien als eine Zeit körperlicher Nähe und der Freizügigkeit.
Die Welt der Römer wurde auf den Kopf gestellt. Sie kehrten ihre bestehende Ordnung um: Bei üppigen Festessen bedienten die Hausherren die Sklaven, es gab Freiheiten für Frauen, offen erlaubtes illegales Glücksspiel. Statuen des Saturn, die traditionell mit Wollbändern an den Füßen gefesselt waren, banden die Römer los, damit sich der Gott dem Vergnügen anschließen könne. In diesen ausgelassenen Jahresendfeiern sehen einige einen Ursprung für die Tradition des Silvesterkusses.
"Wie Neujahr, so das ganze Jahr"
Die Menschen in Europa blieben diesem Ritual auch nach dem Untergang des Römischen Reiches treu. Im Mittelalter schrieben viele der ersten Begegnungen im neuen Jahr große Bedeutung zu. Jenes erste Aufeinandertreffen sollte den Verlauf des gesamten Jahres formen. Die Menschen achteten besonders darauf, mit wem sie zum Zeitenwechsel interagierten. Sie glaubten: "Wie Neujahr, so das ganze Jahr". Daraus entstand schließlich ein Aberglaube: Ein Kuss um Mitternacht verspreche ein Jahr voller Liebe. "Ungeküsst" jedoch wird man in der neuen Zeit von Pech und Einsamkeit verfolgt.
Der Neujahrskuss war nicht mehr nur eine einfache Geste, sondern ein bedeutungsvolles Ritual des guten Willens und der positiven Absichten. Die Menschen tauschten Umarmungen und Küsse aus, um ihre Zuneigung zu symbolisieren und ihre Hoffnungen auf Glück im kommenden Jahr auszudrücken. Dieser Volksglaube hielt sich über Jahrhunderte bis in die Zeit der Renaissance.
Maskeraden während der Renaissance
Ab dem 15. Jahrhundert feierten die Menschen in Europa vermehrt Maskenbälle. Auch zum Abschied des alten und zur Begrüßung des neuen Jahres verkleideten sich viele. Die Masken symbolisierten die Laster und die bösen Geister des vergangenen Jahres. Wenn die Uhr Mitternacht schlug, legten alle Feiernden ihre Masken - und damit auch die alten Sünden - ab.
Schließlich küssten sie sich ausgelassen, sie glaubten an die reinigende Kraft dieser Zärtlichkeiten, die alles Böse aus ihren Körpern verbannte. Sie glaubten, das Kussritual verschaffe ihnen eine reine Weste. "Der Kuss war zu einem Mittel geworden, um sich vor Einsamkeit oder Tragödien zu schützen und einen Neuanfang in Liebe und Intimität zu garantieren", sagt Historiker Ralph E. Long dem Magazin "Vogue".
Kollektives Küssen in Schottland
Seit dem 17. Jahrhundert zelebrieren die Schotten vom Abend des 31. Dezember bis in die frühen Morgenstunden des 1. Januar "Hogmanay". Dieses schottische Fest entspringt nordischen und keltischen Wintertraditionen. Dazu gehören zahlreiche Rituale, unter anderem das Essen des gleichnamigen Früchtekuchens, das Singen des schottischen Liedes "Auld Lang Syne", das Verbrennen alter Fässer und das "First Footing", bei dem ein dunkelhaariger Mann als erster das Haus im neuen Jahr betritt, was Glück bringen soll.
Beim "Hogmanay" feiern Fremde und Freunde gemeinsam den Beginn eines neuen Jahres. Um Mitternacht küsst man dabei nicht nur eine ausgewählte Person unter den Gästen, sondern gibt allen Anwesenden einen Kuss - die Menschen überschütten sich mit Küssen. Die Idee hinter diesem kollektiven Knutschen: Es verbindet Familie, Freunde und Fremde miteinander, sodass sich niemand in diesem besonderen Moment allein fühlt. Der Kuss zu "Hogmanay" symbolisiert Gemeinschaftsgefühl.
Eine deutsche Tradition in Amerika
Im 19. Jahrhundert suchen viele Europäer in der "Neuen Welt" Land, Arbeit und Freiheit. Neben dem Traum von einem besseren Leben bringen die Migranten damals auch ihre Bräuche mit über den Atlantik. Die US-Historikerin Alexis McCrossen erklärt, dass es damals deutsche Einwanderer waren, die den Neujahrskuss in den Vereinigten Staaten verbreiteten.
Dafür dient ihr unter anderem ein Artikel aus der "New York Times" von 1863 als Beweis: "Silvester ist ein großes Fest für die Deutschen, die sich um den heimischen Kamin, in ihren öffentlichen Sälen, ihren Vereinsheimen, ihren Theatern, ihren Konzerthallen und ihren Bierkellern versammeln, um die letzten Stunden des alten Jahres mit Musik, Gesang, Theater und Possen, guter Laune und Fröhlichkeit zu verbringen", heißt es darin. "Wenn die Uhren Mitternacht schlagen, hält all diese Festlichkeit für einen Moment inne, um zu lauschen, und wenn der letzte Schlag verklingt, fallen sich alle, ob groß oder klein, alt oder jung, männlich oder weiblich, in die Arme, und herzliche Küsse gehen wie eine Salve von Lippenfeuerwerk mit dem Ausruf 'Prost Neujahr!' umher", beschreibt der Autor des Artikels in der "New York Times" diesen deutschen "Brauch von ganzem Herzen". Das intime Ritual zu Silvester wurde von den eigentlich eher prüden Amerikanern übernommen - auch weil die Deutschen unter allen Emigranten die respektabelsten waren, so US-Historikerin Alexis McCrossen im "Time"-Magazine.
Mitternachtskuss auf der Leinwand
Ab dem 20. Jahrhundert ist der Mitternachtskuss an Silvester auch immer mal wieder Schlüsselszene in Filmen und Serien. 1974 inszeniert Regisseur Francis Ford Coppola im zweiten Teil seines Mafia-Epos "Der Pate" einen Mitternachtskuss zwischen zwei Brüdern. In dem Moment, als der eine versteht, dass der andere ihn verraten hat, zieht er seinen Bruder zu sich und gibt ihm einen "Kuss des Todes". Ein dramatischer Höhepunkt des Hollywood-Films.
Andere Filme zeigen den Neujahrskuss als romantische Geste: "Wenn man erkennt, dass man den Rest seines Lebens mit jemandem verbringen möchte, möchte man, dass der Rest seines Lebens so schnell wie möglich beginnt", erklärt Schauspieler Billy Crystal in der Rolle von Harry im Film "Harry und Sally". Um Mitternacht küsst Sally, gespielt von Meg Ryan, Harry – diese Szene etabliert den Silvesterkuss als romantische Krönung einer jeden Schnulze. Wenig später prägen Filmreihen wie "Bridget Jones" und Serien wie "Friends" die Erwartungen der Zuschauenden an jenen Moment, wenn die Uhr zwölf schlägt und eine neue Zeit beginnt. So ist der Neujahrskurs zunehmend ein Phänomen in der Popkultur des 21. Jahrhunderts.
Bis heute ist nicht klar, woher genau die Tradition stammt, sich um Mitternacht an Silvester einen Kuss zu geben. Es ist ein Ritual, das vermutlich seit Jahrtausenden besteht und uns Hoffnung auf ein besseres neues Jahr beschert.