Evolution Künstliches Bakterium mit sehr wenig Erbgut passt sich schnell an

Viele Zellen des Bakteriums Mycoplasma mycoides haben sich zu einer Kugel zusammengeballt. Forschende haben sein Erbgut auf ein Minimum von weniger als 500 Genen gestrafft – und trotzdem konnte das Bakterium im Labor nicht nur überleben, sondern sich sogar weiterentwickeln
Viele Zellen des Bakteriums Mycoplasma mycoides haben sich zu einer Kugel zusammengeballt. Forschende haben sein Erbgut auf ein Minimum von weniger als 500 Genen gestrafft – und trotzdem konnte das Bakterium im Labor nicht nur überleben, sondern sich sogar weiterentwickeln
© Tom Deerinck & Mark Ellisman/National Center for Imaging and Microscopy Research,University of California at San Diego
Dem Darmbakterium Mycoplasma mycoides haben Forschende rund 45 Prozent seiner Gene entfernt. So richtig stören tut das den Erreger nicht – zumindest wenn man ihm Zeit gibt

Ein künstlich im Labor erzeugtes Bakterium passt sich vergleichsweise schnell an seine Umgebung an, selbst wenn man sein Erbgut extrem reduziert. Die Rate, mit der sich Erbgutbausteine veränderten, sei durch die auf ein absolutes Minimum beschränkte Zahl an Genen nicht beeinträchtigt, schreibt ein US-amerikanisches Forschungsteam im Fachmagazin Nature.

Studienleiter Jay Lennon von der Indiana Universität sieht seine Ergebnisse als Beweis dafür, dass sich das Leben immer einen Weg bahnt: "Wir können einen Organismus bis auf ein paar essenzielle Gene vereinfachen, aber das hält die Evolution nicht von ihrem Lauf ab."

493 Gene reichen aus

Das Team um Lennon konzentrierte sich in ihren Experimenten auf das Bakterium Mycoplasma mycoides JCVI-syn3B. Die Basis dieses synthetischen Einzellers ist M. mycoides, ein bei Ziegen und anderen Tieren vorkommendes Darmbakterium, das mit 901 Genen ohnehin schon ein sehr kleines Erbgut hat. Zum Vergleich: Das beim Menschen vorkommende Darmbakterium E. coli hat mehr als 4000 Gene.

Erst im Elektronenmikroskop werden die winzigen Zellen des Bakteriums Mycoplasma mycoides bei 15 000-facher Vergrößerung sichtbar
Erst im Elektronenmikroskop werden die winzigen Zellen des Bakteriums Mycoplasma mycoides bei 15 000-facher Vergrößerung sichtbar
© Tom Deerinck & Mark Ellisman/National Center for Imaging and Microscopy Research,University of California at San Diego

Bereits 2010 war es gelungen das Genom von M. mycoides künstlich nachzubauen und damit ein lebensfähiges Bakterium zu schaffen. An diesem Modellorganismus probierten Forschende dann aus, wie viele Gene es mindestens braucht, um weiter lebensfähig zu sein. So entstand Version JCVI-syn3B, ein Bakterium mit der nur absolut notwendigsten genetischen Ausstattung: insgesamt besitzt es 493 Gene. Fachleute sprechen auch von einer Minimalzelle.

Unklar war bislang, ob sich diese Minimalzellen noch weiterentwickeln können. "Jedes einzelne Gen in seinem Erbgut ist essenziell", sagte Lennon. "Man könnte mutmaßen, dass es keinen Spielraum für Mutationen gibt. Das könnte das Potenzial zur Weiterentwicklung beschränken."

Das Team um Lennon gab den Minimalzellen 300 Tage Zeit, um sich zu verändern, das entspricht etwa 2000 Bakteriengenerationen. Auf den Menschen übertragen würden die 300 Tage einer Evolution von rund 40 000 Jahre entsprechen. Bei jeder Bakterienteilung kommt es zu winzigen Veränderungen im Erbgut, die der Zelle einen Vorteil oder auch einen Nachteil verschaffen können. Da sich die Zellen mit vorteilhaften Mutationen durchsetzen, passen sich Bakterien nach und nach ihrem Umfeld an und werden widerstandsfähiger.

Wettkampf der Bakterienstämme

Im nächsten Schritt wollte das Forschungsteam verschiedene Stämme miteinander vergleichen: die Minimalzellen nach 300 Tagen Evolution, die Minimalzellen ohne Evolution sowie M. mycoides-Zellen, die noch ihre volle Genzahl hatten. Die Forschenden ließen die verschiedenen Bakterien gegeneinander antreten, indem sie jeweils zwei davon gemeinsam in einem Laborgefäß wachsen ließen.

Dabei beobachteten sie, dass die Bakterien mit vollständigem Erbgut die Minimalzellen ohne Entwicklungszeit schnell verdrängten. Die 300-Tage-Minimalzellen hingegen schlugen sich wesentlich besser. Sie hatten durch die Evolutionszeit zu der Lebensfähigkeit zurückgefunden, die durch den Verlust der Gene zunächst geschwächt worden war, heißt es in der Studie.

Valentin Frimmer, dpa