Wir haben euch eingeladen, für unseren Schreibwettbewerb Gedichte und Geschichten zu schreiben, die sich mit dem Anderssein auseinander setzen. Eure Reaktion war überwältigend: Neun Texte haben uns erreicht, jeder auf seine Art besonders und intensiv.
Der Gewinnerbeitrag: Regenbogenkind
"Ich war noch ganz klein, als meine Mutter mit Drogen angefangen hat", fing ich an zu erzählen. Das Mädchen sah mich mit ihren blauen Augen an. Sie schwieg. "Anfangs ist sie immer nur für eine halbe Stunde weggegangen, da hat mein Vater dann auf mich aufgepasst", erzählte ich weiter. Ich war mir nicht sicher, ob das Mädchen alles wirklich hören wollte. Sie runzelte zu meinem Erstaunen nicht die Stirn und fing nicht an zu lachen.
Ich holte tief Luft, bevor ich weiter erzählte. "Aber dann blieb sie immer länger weg", murmelte ich. Bei der Erinnerung musste ich meine Tränen unterdrücken. Das Mädchen rutschte näher an mich heran. Sie schien mich zu verstehen.
"Und irgendwann... kam sie nicht mehr zurück", ich biss mir auf die Unterlippe. Eine Träne kullerte über meine Wange. Das Mädchen sagte nun endlich etwas: "Also … ist sie gestorben weil sie zu viele Drogen genommen hat?", fragte sie.
Ich nickte. "Überdosis", sagte ich. "Mein Vater hat irgendwann alles nicht mehr auf die Reihe gekriegt. Er war völlig fertig. Ich habe das kaum verstanden, ich war erst drei. Irgendwann haben sie mich mitgenommen. Eine Frau war da. Ich weiß nicht mehr, was passierte", erzählte ich und sah das Mädchen an.
Sie gab mir ein Taschentuch. Ich nahm es und strich mir damit die Tränen aus dem Gesicht. "Ich war nur kurz in dem Heim, in das sie mich gesteckt hatten. Elternpaare kamen, sahen mich an und schüttelten den Kopf. Ich verstand das alles nicht, ich war dafür zu klein. Ich kannte niemanden, habe mich immer in den Ecken verkrochen und nie gesprochen." Ich versuchte mich weiter zu erinnern. Damals hatte ich Papa sehr vermisst. Ich dachte, alles wird gut, ich werde hier nur kurz bleiben, Papa wiedersehen und dann ist alles gut. "Papa hat mir sehr gefehlt. Ich kann es nicht beschreiben. Ich war so alleine. Meine Tanten, meine Omas und Opas haben mich alle im Stich gelassen", erzählte ich.
"Ich weiß nicht, wie lange ich da blieb, aber irgendwann war ich bei Andreas und Tomas, meine ‚Stiefeltern’. Anfangs fand ich es sehr merkwürdig. Sie sorgten zwar für mich, gaben mir ein Bett, zu Essen, alles mögliche. Aber warum? Ich hatte so viele Löcher im Kopf. Ich redete immer noch nicht. Irgendwann kam mein Vater vorbei. Er sah schlimm aus. Augenringe, Bierbauch und geschwollene Augen", sagte ich. Ich habe heute noch das Bild vor Augen. Ich hatte richtige Angst. Aber er war der einzige Mensch, dem ich vertraute.
Ich begann weiter zu erzählen: "Papa erzählte mir, dass Andreas und Tomas sich lieben, dass sie mich lieben und dass er mich liebt. Ich war noch zu jung, um das mit Andreas und Tomas zu verstehen. Damals hielt mein Vater meine Hand und ich seine. ‚Ich will zu dir nach Hause’, habe ich ihm gesagt. Aber er hat den Kopf geschüttelt. Er erzählte, dass ich es in einer Regenbogenfamilie viel besser hätte als bei ihm. Das waren zu viele Wörter für mich, die ich nicht verstand. Aber er hat mir einen Kuss gegeben und ist gegangen. Ich darf ihn jetzt natürlich immer sehen, wann ich will."
Das Mädchen hatte die ganze Zeit auf den Boden gestarrt. "Wirst du deswegen gemobbt?", fragte sie schließlich. Ich achtete nicht auf ihre Frage. "Ich wurde erwachsener und begann mit der Zeit alles zu verstehen. In der Grundschulzeit war alles friedlich. Aber ich brachte es nicht übers Herz, sie Papi zu nennen. Andreas wurde Vati und Tomas wurde Papa. Aber mit der Zeit nannte ich sie dann einfach bei ihren Namen. Als ich hier zur Schule ging, nannten sie mich ‚Sonderkind’, ‚Regenbogenkind’ oder einfach nur ‚Outsider’. Anfangs waren es nur die Jungs, aber mit dem Alter dann auch die Mädchen. Und dann fing das Mobbing an", bei diesem Punkt stockte ich.
Das Mädchen nahm sich ein Kaugummi aus ihrer Tasche und kaute darauf nervös rum. Ich erzähle anderen Menschen normalerweise nie von dem Mobbing - sogar Andreas und Tomas nicht. Ich tische ihnen immer eine andere Lüge auf. Es ist, wie als wäre ich in ein tiefes Loch gefallen, und immer wenn ich mit meinen Händen am Rand der Grube Halt gefunden habe, kommen die Jungs und treten auf meine Fingerspitzen, so dass ich vor Schmerz loslassen muss.
"Jungs fingen mich ab, beschimpften mich, spukten mich an und noch viel schlimmere Dinge", sagte ich mit trockener Stimme. Das Mädchen sah mich an.
Plötzlich schrillte die Pausenglocke. Die Pause war zu Ende. Das Mädchen schien erleichtert zu sein, dass sie nun weglaufen konnten. Weg von mir und meinem Schicksal. Sie rannte los und verschwand in der Menschenmenge.
Und das nur, weil ich ein Regenbogenkind war.