Es braucht keine fünf Minuten, dann ist mir klar: Das mit den Vogelpfeifen war ein Fehler. Einer, den man bitter bereut, in diesem Fall wohl mindestens ein ganzes Wochenende lang. Die Einsicht würde ich gern mit meinen Jungs teilen. Aber das ist nicht drin. Ich muss vorangehen – den Weg hoch zum Aussichtsturm am Elbhang und mit gutem Beispiel sowieso: schweigen und so tun, als ob ich die krakeelende Kuckuckspfeife gar nicht hören würde.
Kruuuukck, krächzt es schrill gleich neben meinem Ohr. Ich mag Kuckucke und ihre dunklen, geheimnisvollen Rufe. Aber dieser hier klingt kein bisschen geheimnisvoll, eher sangesgestört. Krruuuukkkuck. Krruuu, krruuuuu, krruuukkuck! Ich stapfe die Stufen zum Turm hinauf, will mich schon umdrehen, will doch was sagen. Aber dann bin ich ganz oben, werde besänftigt vom sagenhaften Fernblick. Ich schaue in die Ebene, die mir zu Füßen liegt, staune über die Elbe, die scheinbar endlos weit durch die Welt rauscht. Und merke erst gar nicht, dass der Kuckuck endlich verstummt ist.

Auch die anderen vier sind jetzt oben angekommen. Moritz, Matthes, Christian, Lucas. Alte Freunde, Weggefährten. In wechselnden Konstellationen haben wir schon eine ganze Reihe von Wald- und Wildnisabenteuern erlebt. Im Harz, auf Havel, Elbe und Rügen, im Hamburger Großstadt-Dschungel sowieso. Doch dieses Mal ist es anders: Nicht nur, weil wir unbekanntes Gebiet erkunden – wir wandern zwischen der Elbe und der Göhrde, einem großen, alten Wald, rund 75 Kilometer südöstlich von Hamburg. Sondern vor allem, weil wir dabei schweigen wollen. Wir wollen ein Wochenende wortlos wandern, die Wildnis ganz still wirken lassen, genau wie unsere Freundschaft.
Los geht’s auf einem Parkplatz am Kniepenberg, einem Hügel in der Nähe von Hitzacker. Am Freitagabend treffen wir hier ein, kommen aus allen Himmelsrichtungen – aus Hamburg, Berlin und Göttingen. Letzte Gespräche bei Bier und Grillgut. Wie geht’s euch, alles okay? Dann, gegen Mitternacht: Schlaft gut, wir sprechen uns Sonntag!
"Es gibt nichts Besseres, als mit einem guten Freund über ein interessantes Thema zu schweigen"
Am nächsten Morgen: verschlafene Blicke, verlegenes Grinsen, stummes Schulterklopfen. Moritz kocht Kaffee, wir packen unsere Rucksäcke. Ich verteile die Vogelpfeifen, die ich für unser Experiment gekauft habe. Meine Idee: Damit kann man sich auch schweigend bemerkbar machen, in Notfällen oder wenn es etwas Spektakuläres zu zeigen gibt. Die Realität: Matthes bläst sofort mit dicken Wangen in seine Pfeife, will gar nicht mehr aufhören. Krruukk, kruukkrrrk! So viel zum Thema Stille.
Erst das Panorama des Aussichtsturms scheint ihm die Vogelstimme zu verschlagen. Der Wind pfeift in den Baumkronen, wir atmen noch schwer vom Aufstieg. Schweigen, schauen, frühstücken. Dann runterklettern, am Elbhang weiterwandern nach Drethem, ins nächste Dorf, von dort dann landeinwärts. Unter unseren Füßen raschelt das Laub, knacken Zweige. Es riecht nach Wald, wunderbar frisch und feucht. Jetzt wird’s richtig gut, denke ich. Wie es wohl den anderen geht?

Gestern, auf der Anreise, habe ich noch gegrübelt, ob die Sache gut geht. Gewiss, die Idee mit dem Schweigemarsch kam von mir: ein Wochenende ohne die doch immer gleichen Gesprächsthemen (Job mal mehr oder weniger stressig, Beziehung mal mehr oder weniger harmonisch, Kinder mal mehr oder weniger gesund). Stattdessen: ein Fokus auf das Wesentliche, auf Wald, Wandern, Abenteuer. Und auf Freundschaft, die wortlos funktioniert. Wie sagte schon Sir Alec Guinness, bekannt als Obi Wan Kenobi aus dem ersten "Star Wars"-Film? "Es gibt nichts Besseres, als mit einem guten Freund über ein interessantes Thema zu schweigen."
Klingt gut, theoretisch. Praktisch beschleichen mich auch jetzt, nach der ersten sprachlosen Stunde wieder Zweifel. Was geschieht, wenn den anderen die Lust an Stille vergeht? Ziehen die vier vielleicht hinter meinem Rücken schon Grimassen? Ich bin bisher vorangegangen, habe die Wanderkarte und damit auch die Führung übernommen. Jetzt drehe ich mich um. Und atme auf: Die Morgensonne scheint in vier entspannte, glückliche Männergesichter.
Die sorgfältige Planung einer Schweigewanderung ist alles
Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis unser Schweigen gebrochen wird ... Wir lassen Drethem hinter uns, marschieren durch die Feldmark. Vor uns gabelt sich der Weg, ich führe entschlossen nach links. Und stelle kurz darauf fest, dass irgendwas nicht stimmt. Sollte dieses Waldstück zu unserer Linken nicht eigentlich rechts der Strecke stehen? Ich zücke die Wanderkarte, werde langsamer, höre hinter mir ein betont lautes Räuspern. "Dauert wohl wieder mal länger heute", sagt Moritz. "Sind wir denn bald da?", fragt Matthes. Ich grinse zurück, will erklären, dass ich die Sache fest im Griff habe. Gar nicht so einfach, ganz ohne Worte. "Wir sind falsch abgebogen, müssen ein Stück zurück", sage ich zerknirscht. "Aber kein Problem! Ich weiß wieder, wo es langgeht."
Schweigewanderungen, das wird mir erst jetzt klar, wollen sorgfältiger geplant sein als normale Touren. Schon kleine Unstimmigkeiten, die sich sonst mit wenigen Worten klären lassen, werden zum Störfaktor. Nur gut, dass wir bald auf den rechten Weg zurückfinden. Und dann feststellen, dass man auch still viel Spaß haben kann. Vor allem Matthes liefert Entertainment, posiert theatralisch für Fotos – als bissfester Biber, verträumter Baumliebhaber, als trällernder Kuckuck sowieso. Lucas, in einer Doppelrolle als Fotograf und Freund dabei, drückt immer wieder dankbar auf den Auslöser seiner Kamera. Christian und Moritz bestaunen währenddessen die Bäume am Wegesrand, pflücken Äpfel, stopfen sich die Taschen voll.

Am späten Vormittag lassen wir die Felder hinter uns, folgen dem Weg in den Wald hinein. Auf der Forststraße wimmelt es von Mistkäfern. Weil ich keinen tottreten will, gerät die weitere Wanderung zum Slalom. Ich muss richtig aufpassen, dank Schweigen geht das ganz gut. Als ich anfange, die Melodie des alten Protestsongs "Karl der Käfer" zu summen, ernte ich einen strengen Blick von Moritz. Stört er sich am Summen oder an meinem Musikgeschmack? Wieder so eine Frage, die unbeantwortet bleiben muss.
Mittags machen wir Rast auf einer Lichtung. Wir sitzen im Kreis, teilen Proviant. Zum ersten Mal kommt mir das Schweigen komisch vor, beim Essen würde ich mich jetzt doch gern unterhalten. Doch beim stillen Weiterwandern stellt sich Routine ein. Wir marschieren in wechselnden Konstellationen. Mal jeder für sich, mit mehr als einem halben Kilometer Distanz zwischen Vor- und Nachhut. Dann wieder zu zweit oder dritt nebeneinander, als würden wir das spannendste Thema der Welt besprechen.
Matthes übt sich zwischendurch immer wieder an seiner Vogelpfeife, bringt nach einer Weile sogar ganz passable Sounds zustande. Irgendwann schleppt er einen mittelschweren Baumstamm an, fordert mich zum Waldschrat-Schwertkampf auf. Zwei Minuten später sitzen wir hechelnd und mit kleinen Schrammen nebeneinander am Wegesrand.
Meditativer als solche Action-Einlagen: die Köpfe weit in den Nacken legen und den Habicht hoch über uns beobachten. Oder das Gewimmel am meterhohen Ameisenhügel bestaunen – so lange, bis uns ganz schwindelig wird. Schweigend sehe ich eben doch mehr, habe ein größeres Auge für Feines, Kleines. Weltbewegende Einsichten und Erleuchtungserlebnisse bleiben dagegen aus.

Wir dringen immer weiter vor in die Göhrde, schlendern mal durch parallel aufgereihte Fichten-Monokulturen, dann wieder vorbei an knorrigen, mehrere Hundert Jahre alten Eichen. Es dämmert schon, als wir unser Nachtlager erreichen. Ein Waldbesitzer hat uns erlaubt, unter seinen Bäumen zu schlafen. Also: Zelte aufstellen, Lagerfeuer anzünden, Nudeln über den offenen Flammen kochen. Dieses Mal bin ich es, der das Schweigen bricht, ganz kurz, aus zwingenden logistischen Gründen, versteht sich. Bei fortgeschrittener Finsternis leuchten dann die Sterne – und die Smartphone-Displays. Irgendwo ruft ein Käuzchen, in der Ferne wird geschossen, gejagt. Ich lausche den Geräuschen der Nacht, merke, dass ich mehr wahrnehme als sonst, mehr höre, sehe, rieche. Ich komme mir vor wie ein Mikrofon, das jeden Ton aufnimmt. Bin vom Wald fast berauscht.
Am Sonntagmorgen blinzeln wir uns aus müden Augen an. Zelte abbauen, wortlos Kaffee trinken – das wäre sonst wohl auch nicht anders. Gegen Mittag, zurück am Kniepenberg, würde ich die Stille jetzt am liebsten offiziell-pompös per Waldhorn beenden. Stattdessen bringe ich nur ein paar dürre Worte raus, mit leicht belegter Stimme: "Moin, Jungs! Das war’s, danke fürs Mitmachen." Die anderen geben sich zunächst auch wortkarg. Wir müssen uns erst wieder an die Redefreiheit gewöhnen.
Kurz darauf dann: Debriefing bei Elbblick, Bier und Limo. Christian sagt: "Schön war’s, das Wandern. Aber das Schweigen fand ich eher anstrengend, ein bisschen mehr Reden hätte ich gut gefunden." Matthes meint: "Ich bin beim Wandern gern mal still, habe dann aber meistens das Gefühl, ich sollte irgendwann was sagen. Dieser Druck war jetzt weg, das fand ich befreiend." Lucas sagt: "Beim Wandern selbst war die Stille gut, am Lagerfeuer hätte ich gern geredet."
Wir verabschieden uns, auf der Heimreise sitze ich sinnierend hinterm Steuer meines Autos. Mit Freunden wirklich still zu sein, das ist schwieriger als gedacht. Dann fällt mir wieder ein, was Ernest Hemingway einmal zum Thema gesagt hat: "Ein Mensch braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und fünfzig Jahre, um schweigen zu lernen." Wenn man es so sieht, haben wir uns doch richtig gut geschlagen.
5 Tipps für die eigene Schweige-Wanderung
1. Wo geht's hin, wo geht's lang?
Und wo und wann rasten wir? Fragen, die sich sonst mit wenigen Worten klären lassen. Bei Schweige-Wanderungen werden sie schnell zum Störfaktor – und sollten deshalb vorab beantwortet werden
2. Wer führt?
Klare Verantwortlichkeiten erleichtern das Schweigen. Idealerweise bestimmt die Gruppe einen Wanderführer, eine Wanderführerin – der/die die Wegstrecke kennt oder im Vorfeld abgeht
3. Was soll's?
Unterschiedliche Erwartungen bespricht man am besten vorab: Soll so streng und andächtig wie möglich geschwiegen werden? Oder ist die Wanderung eher ein Selbstversuch, bei dem die Regeln erst unterwegs entstehen?
4. Wie lange dauert's?
Wer noch keine große Stille-Erfahrung hat, fängt vielleicht mit einer zwei- oder dreistündigen Wanderung an. Auch gut geeignet: Intervall-Schweigen. Dabei wechseln sich Schweige- und Sprechphasen ab, etwa im halbstündigen Rhythmus
5. Wie geht's, alles gut bei dir?
Auch Zeit für Vor- und Nachgespräche sollte eingeplant werden: Wenn die wichtigsten News aus Privat- und Berufsleben ausgetauscht sind, schweigt es sich anschließend umso entspannter