Es ist ein altes Dilemma: Schädlinge können in der Landwirtschaft verheerende Schäden anrichten und massive Ernteeinbußen verursachen. Pestizide, die Schädlinge abtöten, belasten wiederum oft die Umwelt, verschmutzen etwa Gewässer oder bedrohen nützliche Arten. Seit einiger Zeit erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Schädlingsbekämpfungsmittel, die auf dem Molekül RNA basieren, einer Nukleinsäure. Sie sollen gezielt Schädlinge attackieren und versprechen, frei von Chemie die Umwelt nicht zu belasten. Könnten sie einen Ausweg aus dem Dilemma ermöglichen?
Die neue Methode beruht auf einem Abwehrmechanismus von Pflanzen und Tieren, der eigentlich gegen Viren gerichtet ist. Er wird RNA Interferenz genannt, kurz RNAi. Für seine Entdeckung gab es 2006 den Nobelpreis für Physiologie/Medizin.
"RNAi funktioniert im Grunde wie ein Immunsystem", erläutert Georg Bucher von der Abteilung Evolutionäre Entwicklungsgenetik an der Universität Göttingen. "Es wird aktiv, sobald doppelsträngige RNA in die Zellen gelangt." Doppelsträngige RNA kommt in pflanzlichen und tierischen Zellen im Allgemeinen nicht vor, in vielen Viren hingegen schon. "Erkennt eine Zelle so ein Molekül, schlägt sie Alarm und zerhäckselt das Molekül in kleine Schnipsel." Diese Schnipsel dienen dann im weiteren Verlauf als Vorlage, um alles zu zerstören, was gleich aufgebaut ist - das Virus wird vernichtet.
Was das mit Schädlingsbekämpfungsmitteln zu tun hat? Die Idee dahinter ist, den Abwehrmechanismus, über den auch Schädlinge verfügen, gegen deren körpereigene Strukturen zu richten. "Wir erzeugen im Grunde eine Autoimmunerkrankung", sagt Bucher. "Wir präsentieren den Schädlingen eines ihrer eigenen Gene in Form von doppelsträngiger RNA. In der Annahme, es mit einem Virus zu tun zu haben, attackieren sie sich dann quasi selbst". Das Verfahren wird auch Gene-Silencing genannt, weil damit Gene und die in ihnen steckende genetische Information zum Verstummen gebracht werden.
40 Prozent der Gene sind essenziell
Der erste Schritt bei der Entwicklung eines solchen Schädlingsbekämpfungsmittels: Man muss ein Gen finden, das für den Schädling lebensnotwendig ist - oder wie es Karl-Heinz Kogel vom Institut für Phytopathologie der Uni Gießen ausdrückt: "Ein Ausfall des Gens muss letal sein." Genügend Auswahlmöglichkeiten sind prinzipiell vorhanden. Studien zufolge sind etwa 40 Prozent aller Gene bei Insekten essenziell, ihr Ausfall führt also zum Tod. Allerdings ist es für die Anwendung nötig, Gene beziehungsweise Genabschnitte (Sequenzen) zu finden, die nach Aktivierung der RNAi möglichst schnell zum Tod führen.
Außerdem muss die verwendete Sequenz so gewählt werden, dass sie nur im Schädling, aber nicht in harmlosen Arten vorkommt. Dann spielt die RNAi ihre Stärke aus: Nur dieser Schädling wird getötet. "Das ist das Schöne an der Methode, sie wirkt sehr spezifisch auf die Art, die man erreichen will", sagt Bucher. Kreuzreaktionen seien bei zwei nah verwandten Arten denkbar. "Aber dann ist auch die Wahrscheinlichkeit groß, dass beide Arten Schädlinge sind."
Das Aufspüren solcher gleichermaßen letalen und arttypischen Gene sei wenig problematisch, sagt Kogel. Genetische Strukturen und ihre Bedeutung für den Organismus würden seit Jahrzehnten erforscht. Genome vieler Arten seien mittlerweile sequenziert oder ließen sich bei Bedarf in kurzer Zeit sequenzieren.
Die Auswahl der am besten geeigneten Strukturen sei allerdings durchaus aufwendig, sagt Bucher. Er gehört zu einem Forschungsteam, das in Zusammenarbeit mit Bayer CropScience kürzlich alle Gene des Rotbraunen Reismehlkäfers (Tribolium castaneum), einem Vorratsschädling, nacheinander per RNAi ausgeschaltet hat.
"Wir haben die auftretenden Veränderungen dokumentiert und geprüft, welche Genverluste zum Tod führen. Damit haben wir aus etwa 16 000 Genen die tödlichsten herausgefunden." Die im Projekt "iBeetle" gewonnenen Informationen können auch Erkenntnisse zur Genfunktion bei anderen Arten liefern - und damit dazu beitragen, Zielgene für eine RNAi-basierte Schädlingsbekämpfung zu identifizieren.
Schädlinge könnten die RNA über Pflanzen aufnehmen
Ist ein geeignetes Gen gefunden, wird als nächstes eine doppelsträngige RNA hergestellt, die genau zu dem ausgewählten Gen passt, aber eben keine Ähnlichkeit zu Sequenzen in anderen Tieren hat. Nun muss diese doppelsträngige RNA noch in die Schädlinge hinein gebracht werden, damit deren RNA-Interferenz-System anspringen kann. Eine Möglichkeit besteht darin, die RNA einfach auf die Pflanzen aufzusprühen, so dass die Schädlinge sie beim Fressen aufnehmen.
Das Problem: RNA ist ein Biomolekül - sie ist nicht besonders stabil. "Im Grunde genommen können Sie RNA nicht oral applizieren. Die wird in der Umwelt, auf Böden oder Blättern und auch im Verdauungstrakt der Schädlinge rasch abgebaut", sagt Kogel. Die wohl entscheidendste Fragestellung in dem Forschungsbereich sei daher momentan: Wie kann ich die RNA stabiler machen? "Man versucht die RNA mit anderen Komponenten zu mischen, die das empfindliche Molekül schützen", sagt Kogel. Wissenschaftler sprechen von der Formulierung der RNA. Die Haltbarkeit habe sich dadurch bereits deutlich erhöhen lassen, von gut einem auf etwa zehn Tage.
Stellt ein Landwirt einen Schädlingsbefall fest, kann er diesen also mit der sprühfähigen RNA-Lösung bekämpfen: Sobald die Schädlinge an den behandelten Pflanzen fressen, wird die genetische Selbstzerstörung in Gang gesetzt. "Nach etwa sechs Stunden setzt die Wirkung ein, nach einem Tag registrieren wir ein merkliches Nachlassen der Genaktivität", sagt Kogel.
"Im Vergleich zu chemischen Mitteln dauert es länger, bis eine Wirkung eintritt und die Schädlinge sterben", sagt Bucher. "Allerdings hören sie bereits früher auf zu fressen." Um einen Befall wirksam zu bekämpfen, reicht eine einmalige Sprühaktion in den meisten Fällen wohl nicht aus. Die RNA-Lösung wird in der Umwelt rasch verdünnt, etwa bei Regen oder auch durch das bloße Wachstum der Pflanzen. Man muss also nachsprühen. Insgesamt sei der Ansatz aber als praktikabel zu bewerten, sagt Bucher.
Vorsorgliche Anwendung noch unklar
Ob auch eine vorsorgliche Anwendung zum Schutz vor einem Schädlingsbefall mit der Methode möglich ist, ist derzeit unklar. "So weit ist die Forschung einfach noch nicht. Man bräuchte dazu ja auch mehrjährige Feldversuche, um das zu untersuchen, das gibt es noch nicht."
Eine weitere Möglichkeit, das RNAi-System zur Schädlingsbekämpfung zu nutzen, besteht darin, transgene Nutzpflanzen zu erzeugen, die die ausgewählten Zielstrukturen in ihrem eigenen Erbgut tragen - sie bilden die schädlingsbekämpfende, doppelsträngige RNA selbst. "Das ist viel effektiver und ökologisch sinnvoller als das Sprühen", sagt Kogel. "Aufgrund der Vorbehalte gegen transgene Pflanzen hierzulande bin ich aber nicht besonders optimistisch, dass dieser Ansatz große Erfolgsaussichten hat."
Erste Mittel, die auf RNAi basieren, sind bereits zugelassen oder befinden sich auf dem Weg in Richtung Zulassung. Bei der Entwicklung sprühfähiger RNAi-basierter Pestizide steht momentan die Bekämpfung des Kartoffelkäfers (Leptinotarsa decemlineata) im Fokus. Im vergangenen Jahr berichtete etwa das kanadische Unternehmen Renaissance BioScience von erfolgreichen Versuchen mit einem entsprechenden Präparat. Das Mittel habe 98 Prozent der Larven des Kartoffelkäfers abgetötet und Schäden an den Pflanzen erheblich reduziert. Auch die Unternehmen Syngenta und Greenlight Bioscience arbeiten an RNAi-Mitteln gegen den Kartoffelkäfer.
In den USA ist eine vom Unternehmen Bayer entwickelte transgene Maissorte bereits erhältlich, die per RNA-Interferenz den Maiswurzelbohrer (Diabrotica virgifera virgifera) attackiert. Der gefürchtete Schädling stammt aus Mittelamerika, ist aber inzwischen auch in den USA und Kanada sowie in Europa weit verbreitet.
Was die Anwendungsmöglichkeiten einschränkt ist die Tatsache, dass nicht alle Schädlinge ihr RNA-Interferenz-System aktivieren, wenn sie doppelsträngige RNA aufnehmen. Zudem bilden viele Insekten Enzyme, die die doppelsträngige RNAabbauen können, sogenannte Nukleasen. Auch dann kann keine Wirkung eintreten. Und ganz generell werden mit der Sprühmethode eben nur Arten erreicht, die oberirdisch und von außen an der Pflanze fressen.
Ein Problem scheinen die RNAi-basierten Mittel zu umgehen: Die Entwicklung von Resistenzen aufgrund von genetischen Anpassungen bei den Schädlingen. "Man adressiert in der Regel gleich mehrere Zielstrukturen. Dass die alle gleichzeitig mutieren, ist sehr unwahrscheinlich", sagt Kogel.
Nach Angaben des Umweltbundesamtes liegt der Absatz an Pestiziden in Deutschland bei jährlich 35 000 Tonnen reinem Wirkstoff. Die reine Menge sagt wenig über die Auswirkungen auf die Umwelt und Artenvielfalt aus. Aber klar ist, es braucht Alternativen zu den risikoreichen chemischen Mitteln. RNA-basierte Schädlingsbekämpfungsmittel können die Pestizid-Problematik allein sicher nicht lösen. Aber sie könnten womöglich einen Beitrag leisten zu einer umweltverträglicheren Landwirtschaft.