Gerade ist eine neue Studie im "Science"-Magazin erschienen: Fangquoten überschätzen permanent die realen Fischbestände. Wie kommt das?
Die Kollegen haben untersucht, wie die erlaubten Fangmengen bestimmt werden und wie korrekt das ist. Es funktioniert so: Wissenschaftler schätzen, wie groß ein Bestand im nächsten Jahr sein wird. Politiker schauen sich diese Bestandsgröße an und legen fest: Von diesem Fisch können wir so und so viel rausnehmen. Es ist also sehr wichtig, dass diese Vorhersagen stimmen. Nun hat man natürlich keine Daten fürs nächste Jahr. Man muss sich also darauf verlassen, dass die Modelle, die rückwirkend aus der Vergangenheit Bestände hochrechnen, auch eine vernünftige Aussage machen.
Und tun sie das?
Nein. Man kann das ja überprüfen, indem man zurückblickt: Was war die Vorhersage vor zum Beispiel drei Jahren und wie war der Bestand wirklich? Dabei haben die australischen Kollegen herausgefunden, dass die Bestandsgrößen um etwa 30 Prozent überschätzt wurden.
Das ist aber nur ein Mittelwert?
Genau. Die Australier haben 230 Bestände weltweit untersucht, und bei einigen lagen die Vorhersagen sogar 100 bis 200 Prozent zu hoch. Wir haben uns das am Beispiel der Seezunge in der Nordsee genauer angesehen. Da gab es tatsächlich massive Überschätzungen: Es wurde dreimal mehr angenommen, als tatsächlich da war. Das führte dazu, dass Politiker auch die Fangquoten viel zu hoch festsetzten. Ein Bestand, dem es in Wirklichkeit schlecht ging, wurde nicht geschont, sondern weiter überfischt. Die Seezunge konnte sich bis heute nicht erholen.
Woher wissen wir, wie viel Fisch im Wasser schwimmt?
Dazu brauche ich zwei Datensätze: Die Fänge der vergangenen Jahre, also wie viel haben wir rausgenommen? Dafür müssen diese Fänge korrekt berichtet worden sein. Und zweitens: Wie viele Fische waren im Wasser? Das ist die schwierigere Frage. Man prüft das auf Forschungsfängen mit Standardnetzen einer bestimmten Größe, die zufällig an ausgewählten Orten eingesetzt werden, über Jahrzehnte hinweg. Dann wird ausgezählt, was im Fang war. Das kann man hochrechnen und eine Schätzung abgeben.
Gibt es solches Monitoring denn in allen Meeren?
Nein, nur in den entwickelten Ländern, weil es recht teuer ist. Die Studie hat sich auch nur auf Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland bezogen. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es keine aufwendige Fischereiforschung und keine Fangquoten.

Sie haben global geforscht und gearbeitet. Wo ist denn Überfischung das größere Problem: bei uns auf der Nordhalbkugel oder im globalen Süden?
Am Beginn meiner Karriere dachte ich, es sind die Entwicklungsländer, weil sie nicht genug Informationen, Wissenschaftler, Daten und keine Forschungsschiffe haben. Um zu helfen, haben wir damals die "FishBase"-Datenbank entwickelt, die für jede Fischart der Welt Informationen zusammenfasst, etwa, wie produktiv sie ist und wie schnell sie wachsen kann. Mit EU-Unterstützung haben wir außerdem Projekte auf der ganzen Welt gestartet, Leute vor Ort ausgebildet, mit Computern, Software und Druckern versorgt. Zehn Jahre lang, mit dem Ergebnis, dass es nachher den Beständen schlechter ging als vorher.
Wie bitte?
Ja. Das hat damit zu tun, dass es in Entwicklungsländern keine Kapazität für Kontrollen gibt. Sie wussten nun zwar, wie es den Beständen in etwa geht, hatten aber keine Möglichkeiten, die Fänge einzuschränken.
Und bei uns?
Ende 2000 ging ich zurück nach Europa. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass hier mehr Bestände überfischt wurden als in den Entwicklungsländern. Einfach deshalb, weil wir hier eine viel größere Fischereiflotte haben und viel mehr Steuermittel als Subventionen in die Fischerei fließen. Man wollte alle Bestände quasi bis an die Grenze des Zusammenbruchs ausfischen. Das war die offizielle Fischereipolitik. Mittlerweile darf man nicht mehr rausnehmen als nachwächst – das ist verbindlich in der EU geregelt. Aber es wird nicht angewandt. 24 Jahre später hat sich also nicht viel verbessert. Auf dem Papier wohl, aber im Wasser nicht.
Wieso wird diese Regel nicht angewandt?
Ich bin kein Politiker, also kann ich nur vermuten. Soweit ich sehe, sind es nationale Interessen. Die Grundlage für die Fangquoten mag auf Nachhaltigkeit basieren, aber dann handelt jeder noch etwas mehr für sich heraus. Die Landwirtschaftsminister können dann an ihre Fischer berichten: Schaut, ich habe für euch gekämpft in Brüssel, damit ihr nicht so stark reduzieren müsst. Aber wenn man Jahr für Jahr mehr rausholt als nachwächst, dann brechen die Bestände weg. Damit ist weder den Fischen noch den Fischern geholfen.
Wie könnte sich das ändern?
Die einzige Lösung, die mir bisher eingefallen ist: Man müsste den Politikern die Bewirtschaftung natürlicher Bestände wegnehmen. Eine politisch unabhängige Institution sollte nachhaltige Fischerei verwalten, so wie die Zentralbank über die Währungspolitik wacht.

Gerade hat die EU-Kommission die Fangquoten in der Ostsee für das kommende Jahr bekannt gegeben. Dorsch in der westlichen Ostsee: minus 73 Prozent. Hering im Westen: minus 50. Sprotte: minus 42. Reicht das?
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Kommission hat mitbekommen, dass es der Ostsee schlecht geht. Laut EU ist die Ostsee das am stärksten verschmutzte Meer Europas. Das liegt zum einen an der Überdüngung, weil so viel Gülle eingeleitet wird. Wenig Sauerstoff im Wasser, Erwärmung und überall Überfischung sind Riesenprobleme, die hier alle zusammenkommen. Unter so schwierigen Bedingungen sollte man schonender fischen. Aber das wird nicht gemacht.
Wie geht es denn den verschiedenen Populationen?
Die westlichen Populationen des Dorschs und des Herings sind beide zusammengebrochen. Weil wir trotz Klimawandels, trotz schwacher Bestände mehr herausgeholt haben, als sie produzieren können. Völliger Wahnsinn. Die Wissenschaft empfiehlt, die Heringsfänge endlich auf null zu setzen. Aber kleinen Booten unter acht Metern sind weiterhin Fänge erlaubt. Und zwar auf Druck von Deutschland, weil die Schonung des Herings den deutschen Fischern nicht zumutbar wäre. Auch Dorsch darf als Beifang weiter gefangen, verkauft, verzehrt und im Restaurant angeboten werden. Der Fischer muss nur erklären: Den habe ich nicht gezielt gefangen. Dabei müsste eigentlich glasklar sein: Ostsee-Dorsch darf nicht mehr auf den Teller. Er ist das größte Sorgenkind. Beim Hering habe ich Hoffnung, dass er sich noch mal erholt. Aber beim Dorsch sieht es schlimm aus, da zählt jeder einzelne Fisch.
Beim Hering sollen die Fangquoten 2025 sogar hochgesetzt werden.
Das ist meine Hauptkritik an der Empfehlung: Die Fänge beim Hering der zentralen Ostsee sollen um mehr als 100 Prozent erhöht werden. Weil es so aussieht, dass möglicherweise der Nachwuchs nächstes Jahr höher als durchschnittlich ausfällt. Dabei ist der Bestand noch viel zu klein, weit außerhalb sicherer, biologischer Grenzen. Und vielleicht ist das auch nur eine Phantomerholung, so wie sie die australischen Kollegen in der Studie beobachtet haben. Aber beim ersten noch so unsicheren Anzeichen, dass sich ein Bestand erholen könnte, werden sofort die Fänge hochgesetzt. Und wenn es tatsächlich einen guten Jahrgang gibt, wird der weggefischt, bevor er sich fortpflanzen konnte. Das ist genau die Politik, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind.
Wie sieht es bei der Sprotte aus?
Sie kennen vielleicht die Kieler Sprotte? Die hatte mal eine riesige Bedeutung für die deutsche Ostsee. Sie war das Hauptprodukt in Eckernförde, da ging früher die ganze Stadt in Rauch auf von den Räuchereien. Heute gibt es keine einzige mehr, weil die Sprotte weggefischt wurde. In der nördlichen Ostsee findet man sie noch, aber auch dieser Bestand wird überfischt. Dabei nimmt die Sprotte eine wichtige Rolle ein: Wie der Hering frisst sie Plankton und wandelt es in Körpermasse um, die Vögeln, Säugetieren und größeren Fischen als Nahrung dient. Nehmen wir die Sprotte raus, durchtrennen wir die Nahrungskette. Man hört immer wieder das Argument von Fischern: Die Dorschbestände sind so klein wegen der natürlichen Räuber, Kormoranen, Robben und Seehunden. Aber wenn die Heringe und Sprotten noch da wären, dann müssten die weniger junge Dorsche fressen. Das Abschießen der natürlichen Räuber wird den Dorsch nicht zurückbringen.

Kann man denn überhaupt noch einen Fisch mit gutem Gewissen essen?
Plattfische aus der Ostsee wie die Scholle kann man essen. Die haben zwar auch ein Problem, weil durch die Überdüngung zu wenig Sauerstoff im Wasser ist, den sie brauchen, um zu wachsen. Sie sind also magerer, aber die Jahrgänge, der Nachwuchs sind gut. Das Gleiche gilt für die Flunder, die Kliesche und den Steinbutt.
Wieso geht es ausgerechnet den Plattfischen besser?
Wir wissen nicht genau, warum. Es könnte damit zu tun haben, dass der Dorsch als Nahrungskonkurrent fehlt. Und: Schollen haben es geschafft, ihre Laichzeit so anzupassen, dass sie mit dem Klimawandel weniger Probleme haben. Sie können ihr ganzes Laichgebiet während der gesamten Laichzeit mit Eiern versorgen. Das ist wichtig, weil das Wetter heute so variabel ist. Deshalb ist es mal richtig, früh zu laichen, mal, spät. Die Scholle besitzt diese Variabilität, ihr Bestand liegt bei etwa 50 Prozent der natürlichen Größe. Der Dorsch dagegen hat nur noch fünf, vielleicht zehn Prozent und kann das nicht.
Sieht es in der Nordsee denn besser aus?
Die Lage ist nicht so dramatisch, weil dort Probleme wie Sauerstoffmangel und Überdüngung nicht so stark sind. Aber auch dort wird überfischt. Dem Hering der Nordsee geht es ein bisschen besser, Matjesbrötchen ist wohl in Ordnung. Auch wenn der Bestand etwas zu klein ist für seine wichtige Rolle im Ökosystem. Und Kabeljau – dieselbe Art, die in der Ostsee Dorsch heißt –, wird massiv überfischt, von der Barentssee in der Arktis bis in die Nordsee. Aus der deutschen Bucht ist er praktisch verschwunden. Also bitte keinen Kabeljau essen.
Läuft man an den Räucherfischbuden in Scharbeutz oder Wismar vorbei, stammt dort so gut wie kein Fisch mehr aus der Ostsee. Und die Fischer klagen über ihre Kutter im Hafen, die nicht rausfahren, weil die Quote für dieses Jahr schon ausgeschöpft ist.
Dass die Fangquoten zu niedrig sind, ist die falsche Aussage – die Bestände sind zu klein. Wenn die Quoten zu niedrig wären, dann müssten die Meere ja überlaufen von Fisch. Auch die Aussage von Fischern: Wir haben unsere Schuldigkeit getan – sorry, das stimmt so nicht. Richtig ist dagegen, dass viele Fischer meist weniger rausgenommen haben, als offiziell erlaubt war und erwartet wurde. Ich möchte niemanden aus seinem Beruf drängen, im Gegenteil. Ich esse selbst gern Fisch. Wir haben einmal abgeschätzt, dass man europaweit sogar fünf Millionen Tonnen Fisch mehr fangen könnte – wenn man die Bestände richtig bewirtschaften würde.
Wie sähe eine nachhaltige Fischwirtschaft denn aus?
Das Prinzip ist ganz einfach: etwa 20 Prozent der Fische herausnehmen, die restlichen wachsen und bekommen Nachwuchs. Aber dafür muss man eben auch 80 Prozent im Wasser lassen. Wenn man stattdessen 40 oder 60 Prozent fängt, dann macht man erst mal einen Superprofit, hat aber schon im nächsten Jahr weniger und bald nichts mehr. Der Versuchung des schnellen Gelds können Politiker anscheinend nicht widerstehen. Besorgte Fischer, die das Problem sehen und ihre Fangquoten nicht ausschöpfen, werden sogar noch bestraft: Im nächsten Jahr wird ihre Fangquote gekürzt. Mein Gott, was kann man denn noch falsch machen?
Was wäre eine gute Fischereipolitik?
Fischerei-Management ist keine Raketenwissenschaft. Nicht mehr rausnehmen als nachwächst – das erschließt sich sofort. Die zweite Grundregel: Fische müssen sich fortpflanzen. Das heißt, man muss sie wachsen lassen, bis sie die Größe haben, ab der sie geschlechtsreif sind. Stattdessen sind die offiziellen Maschenweiten so, dass ein großer Teil des Fangs aus Jungfischen besteht. Kabeljau kann bis 1,30 Meter werden, ab etwa 60 Zentimetern ist er geschlechtsreif, und gefangen werden darf er ab 30 Zentimetern. Das ist Wahnsinn, aber völlig legal. Das wirksamste Mittel zur Anpassung an den Klimawandel ist die genetische Vielfalt in großen Beständen mit natürlicher Altersstruktur. Deshalb bräuchte es als dritten Punkt Rückzugsgebiete, in denen Fische groß und alt werden können. Und wir brauchen hitzefrei für Fische: Wenn die Sommer im Klimawandel immer heißer werden, sammeln sich Fische dort, wo das Wasser kühler ist. Geht man da mit dem Netz durch, kann man sie gleich ausrotten.
Gibt es denn Hoffnung für unsere heimischen Fische?
Vor 20 Jahren war das Problem in Deutschland gar nicht bekannt. Jetzt kennt jeder den Begriff Überfischung und weiß, was sie anrichtet. Das ist ein Fortschritt. Die Probleme sind klar, die Gesetze sind inzwischen verbessert, die Politiker müssten sie endlich umsetzen. Leider ist das bisher nicht der Fall. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Überfischung – anders als etwa Überdüngung – ist das Problem, das wir mit den geringsten Kosten und am schnellsten lösen könnten. Ein dreijähriger Dorsch verdoppelt sein Gewicht in einem Jahr. Die Bestände könnten sich sehr schnell erholen, in nur drei, vier Jahren. Wenn wir sie nur lassen.