Volksweisheit im Check Darf man Muscheln wirklich nur in Monaten mit "r" essen?

Muscheln essen: geöffnete Miesmuscheln
Deutschland ist Miesmuschelland. Eine ganze Branche lebt vom Anbau der Weichtiere im Wattenmeer. Muscheln essen macht im Sommer allerdings mitunter weniger Vergnügen, da die Qualität des Fleischs schwindet
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Lange galt, dass Muscheln nur von September bis April genießbar seien. Stimmt das? Jein! Worauf es beim Muschelnessen ankommt und wie man Frische erkennt

Miesmuscheln am Nordseestrand, Spaghetti alle vongole im Italienurlaub, Austern zum Sonnenuntergang – Sommerzeit ist Muschelzeit, könnte man meinen. Wäre da nicht eine Regel, die viele im Ohr haben: "Muscheln sind nur in Monaten mit 'r' genießbar." Wer sich von Mai bis August Miesmuscheln, Austern, Jakobsmuscheln oder Venusmuscheln gönnt, müsse mit Magenschmerzen oder Schlimmerem rechnen – so die alte Volksweisheit. Aber woher kommt diese Überzeugung? Wie aktuell ist sie heute noch? Und was gilt es beim Muscheln essen zu beachten?

Die Regel mit den r-Monaten: Das steckt dahinter

Für das Vermeiden des Sommerverzehrs gibt es drei Gründe, die mit den steigenden Temperaturen in der warmen Jahreszeit und dem Lebenszyklus der Muscheln zusammenhängen:

1. Algenblüte: Weshalb warmes Wasser Muscheln verderben kann

In den warmen Sommermonaten können sich giftige Algen und Bakterien exponenziell vermehren. Man kennt das von der sommerlichen Blaualgenblüte in Seen und Flüssen. Das Gleiche kann im Meer passieren. Und da sich Muscheln als Filtrierer von Kleinstlebewesen ernähren, nehmen sie auch deren Giftstoffe auf.

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Aber: Die Wasserqualität der Muschelbänke wird zumindest in Europa streng überwacht. Während einer Algenblüte dürfen keine Muscheln geerntet werden. Häufig werden die Meeresfrüchte in den Sommermonaten ohnehin aus kälteren Gewässern importiert. Zudem werden sie mitunter zusätzlich in kaltem Wasser gelagert oder gespült, damit sie Giftstoffe und Sand ausscheiden. Wer die Muscheln hingegen selbst sammelt, sollte von Mai bis August tatsächlich lieber darauf verzichten.

2. Fortpflanzung: Warum Sex Miesmuscheln mies macht

Die Qualität insbesondere von Miesmuschelfleisch lässt in unseren Breiten in den Sommermonaten rapide nach. Der Grund ist Muschelsex: Ab dem Frühling und über den Sommer stecken die Tiere all ihre Energie in die Produktion von Eizellen und Spermien. Die Befruchtung findet zwar außerhalb des Körpers im Wasser statt, dennoch zehrt der Prozess die Tiere aus. Sie schmecken nicht mehr so gut, sind magerer und zäher.

Ganz auf den Sommergenuss verzichten muss man dennoch nicht: Auch hier wird häufig alternativ auf Importware aus anderen Gegenden oder tiefgekühlte Muscheln zurückgegriffen, um das Problem zu umgehen. Im Zweifel lohnt es sich nachzufragen, woher die Muscheln stammen.

In einigen Gebieten dürfen Muscheln während der Laichphase auch gar nicht geerntet werden. So etwa im holsteinischen Wattenmeer. In der Zeit vom 15. April bis zum 1. Juli haben Miesmuscheln hier Schonfrist, um den Bestand zu erhalten. Können sich die Tiere ungestört vermehren, gibt es langfristig umso mehr Muscheln. Und bis zum Herbst haben sie sich dann auch wieder fett gefressen. 

3. Verderb: Wehe dem, der die Kühlkette unterbricht

Um Kühlung müssen wir uns seit der Erfindung von Kühlschränken und Kühlketten kaum noch Sorgen machen. Wer in einem vertrauenswürdigen Restaurant speist, sollte sich darauf verlassen können, dass die Muscheln frisch transportiert und zubereitet wurden.

Muscheln essen: Zubereitete Jakobsmuschel in eigener Schale serviert
Die Jakobsmuschel liefert ihren Servierteller gleich mit. Gegessen wird der kräftige helle Schließmuskel, der auch der Fortbewegung dient; sowie das rötliche "Corail", das Eier beziehungsweise Spermien enthält
© Irina Marwan / Getty Images

Anders sieht es aus, wenn man die Muscheln selbst einkauft und kocht. Wer die Muscheln beispielsweise im Sommer im heißen Auto liegen lässt und erst noch die Wochenendeinkäufe erledigt, läuft Gefahr, dass die Tiere bis zur Zubereitung verderben. Die Folge kann eine gefährliche Muschelvergiftung sein. Daher sollten frische Muscheln sofort gekühlt und bestenfalls am selben Tag noch zubereitet werden. Rohe oder gekochte Miesmuscheln beispielsweise sind gekühlt maximal zwei Tage haltbar.

Wie erkenne ich, ob eine Muschel frisch ist?

Klopftest: Frische, sprich lebende Muscheln schließen ihre Schale meist an der Luft, um sich vor Austrocknung zu schützen. Vorsicht ist daher bei vielen Muschelarten geboten, wenn die Schale geöffnet ist. Klopft man die Muschel kräftig, sollte sie sich reflexhaft schließen. Passiert das nicht, ist die Muschel wahrscheinlich tot, und der Verwesungsprozess hat eingesetzt. Dann sollte sie nicht mehr gegessen werden. Das gilt erst recht für Austern, die roh verspeist werden. Achtung: Unter Schutzatmosphäre verpackte Muscheln müssen sich nach dem Auspacken oft erst einmal akklimatisieren, bevor sie reagieren. Fließendes kaltes Wasser kann hierbei helfen.

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Berühren: Jakobsmuscheln sind im Gegensatz zu anderen Muscheln häufig leicht geöffnet. Wenn man das Fleisch der lebenden Muschel berührt, zuckt sie zusammen. Das ist ein untrügliches Zeichen für Frische. Das Fleisch selbst sollte glänzend und weiß bis cremefarben sein. Um die Muschel zu öffnen, steckt man ein Tafelmesser seitlich zwischen die Schalenhälften und schabt den Muskel vom Schalendeckel (flache Hälfte) ab. 

Muscheln essen: geöffnete Austern auf Eis mit Zitronenscheiben
Austern schlürft man in der Regel roh mit einem Spritzer Zitrone. Damit Muscheln essen zum Genuss wird und kein Gräuel, sollten sie absolut frisch sein
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Auch Austern reagieren auf Berührung oder das Beträufeln mit Zitronensaft. Verschlossene Austern werden zunächst mit einem speziellen Messer geöffnet. Wegen der Verletzungsgefahr sollte man dabei an der haltenden Hand einen Kettenhandschuh tragen.

Geruchstest: Muscheln sollten angenehm frisch nach Meerwasser und Algen riechen. Riechen sie faulig, stimmt etwas nicht, und sie sollten nicht mehr gegessen werden. Auch beschädigte Muscheln sind auszusortieren.

Sollte man nach dem Kochen verschlossene Muscheln essen?

Diese Frage ist umstritten. Sofern sie nicht tiefgefroren waren, sterben frische Miesmuscheln und Venusmuscheln beim Kochen. Dabei öffnen sie sich normalerweise. Muscheln, die dennoch geschlossen bleiben, gelten gemeinhin als suspekt. Einen wissenschaftlichen Beweis für diese Theorie gibt es jedoch nicht. Und so ist es durchaus gängige Praxis, geschlossene Muscheln zu öffnen und zu servieren. Jedenfalls, wenn das Innere einwandfrei aussieht und gut riecht. Das setzt freilich voraus, dass die Frische vor dem Kochen gründlich geprüft wurde.

Hilfe, warum sind meine Venusmuscheln sandig?

Je nachdem, wo man sie kauft, kann es durchaus sein, dass insbesondere Venusmuscheln noch sandig sind. Schließlich leben sie in feinen Sandböden und graben sich mit ihrem herausstülpbaren Füßchen gern dort ein (Video). Gleiches gilt für die in deutschen Gewässern vorkommenden, ähnlich aussehenden Herzmuscheln.

Muscheln essen: Gekochte Venusmuscheln auf einem Teler
Venusmuscheln umfassen an die 400 Arten, die meisten davon essbar. Je nach Fanggebiet können sie sich optisch unterscheiden. Sie werden gern in einem Weinsud zubereitet
© Alexandr Milodan / Getty Images

Manche essen den Sand einfach mit, andere stören sich sehr an dem Knirschen zwischen den Zähnen. Um das zu verhindern, wässert man die Muscheln ein bis zwei Stunden in Salzwasser, damit sie den Sand ausscheiden. Zwischendurch das Wasser immer wieder wechseln und die Muscheln gründlich durchspülen. Dann gelingen die Spaghetti alle vongole wie an der Adria.

Ist Muscheln essen ökologisch unbedenklich?

Bleibt noch die Frage, ob man Muscheln aus ökologischen Gründen überhaupt essen sollte. Schließen erfüllen die Tiere als natürliche Wasserfilterer eine wichtige Funktion, und die Überfischung macht auch vor Meeresfrüchten nicht Halt. 

Der WWF gibt an, dass Miesmuscheln aus weltweitem Fang relativ unbedenklich sind, wenn sie an Leinen in Aquakultur großgezogen wurden. Dabei setzen sich die Larven am Seil fest und wachsen dort zur vollen Größe heran. Anders sieht es bei Aquakultur mit Bodenkultur aus. Hierfür werden Jungmuscheln in der Wildnis gefangen und auf bewirtschafteten Flächen angesiedelt. Dadurch fehlen die Weichtiere unter Umständen am Ursprungsort. Ökologisch zerstörerisch ist der Wildfang ausgewachsener Muscheln. Dabei werden ganze Muschelbänke von Felsen abgekratzt und zerstört. Der WWF rät ausdrücklich vom Verzehr solcher Muscheln ab.

Austern sollten aus Hänge-, Pfahl- oder Bodenkulturen stammen. Die Austern werden einzeln per Hand geerntet. Die Schäden halten sich dabei in Grenzen, auch wenn die genauen ökologischen Auswirkungen der Zucht unklar sind und angesiedelte pazifische Austern die heimischen Arten stellenweise zu verdrängen drohen.

Jakobsmuscheln aus dem Nordatlantik, genauer Norwegen, Irland, Großbritannien und Frankreich, die per Hand gesammelt wurden, hält der WWF für unbedenklich. Muscheln aus Schleppnetzfischerei (Dredgen) dagegen sollten nicht gegessen werden. Die Netze werden über den Meeresgrund gezogen, wo sie Verwüstungen anrichten, Lebensräume und Korallen zerstören.

Gleiches gilt für Venusmuscheln und Herzmuscheln: Von Hand oder mit einem Rechen gesammelt, bestehen wenig Bedenken. Der WWF nennt die Adria als vorbildlich bewirtschaftetes Sammelgebiet für Venusmuscheln. Muscheln aus Schleppnetzfischerei sind auch hier zu meiden.

Sind Muscheln vegan?

Die Frage mag absurd klingen, schließlich sind Muscheln Weichtiere und damit per Definition nicht vegan. Die allermeisten Veganerinnen und Veganer essen daher auch keine Muscheln. Aber einige wenden ein, dass Muscheln im Gegensatz zu Wirbeltieren, Insekten und anderen Weichtieren kein zentrales Nervensystem besitzen und daher mutmaßlich keinen Schmerz empfinden (mit Sicherheit weiß das aber niemand). Wer aus ethischen Gründen auf Fisch und Fleisch verzichte, um Tierleid zu vermeiden, könne daher Muscheln essen, lautet ein Argument. Letztlich muss das jeder selbst abwägen.