Mitte August 1955 reist Emmett Till mit dem Zug von seiner Heimatstadt Chicago nach Mississippi. Er ist gerade 14 Jahre alt geworden und will die Sommerferien gemeinsam mit seinen ein paar Jahre älteren Cousins im Süden verbringen. Emmetts Großonkel Moses Wright lebt mit seiner Familie in einem kleinen Holzhaus auf einem entlegenen Grundstück nahe der Stadt Money, dort kommen sie unter.
Tagsüber pflücken die Jungen Baumwolle auf dem Feld, denn es ist Erntezeit. Nach dem Abendessen zieht es die Heranwachsenden oft noch einmal nach draußen. Am Mittwoch, dem 24. August, fährt Emmett mit einer Gruppe Nachbarn und Verwandten zum Lebensmittelladen Bryant’s Grocery nach Money, um Limonade und Süßigkeiten zu kaufen. Der Laden gehört dem 24-jährigen Roy und seiner 21-jährigen Ehefrau Carolyn. Sie ist an jenem Abend allein im Geschäft. Die Cousins warten draußen auf Emmett, sie haben ihre Leckereien bereits bezahlt. Im Geschäft kauft Emmett Kaugummi, dann verlässt auch er den Laden. Kurze Zeit später kommt die junge Ladenbesitzerin heraus und geht zu ihrem Auto. Der aufgeweckte Junge aus Chicago, der es mag, anderen kleine Streiche zu spielen, pfeift der jungen Frau hinterher. Doch in den 1950er-Jahren kann ein Schwarzer nicht einfach einer Weißen zupfeifen – zumindest nicht in Mississippi.
Ein Mord in Mississippi
Seit der Abschaffung der Sklaverei 1865 sorgen die Jim-Crow-Gesetze für strikte Rassentrennung in den US-Südstaaten, auch in Mississippi. Afroamerikaner werden als Bürger zweiter Klasse behandelt und sind von vielen Orten ausgeschlossen. Sie können bestimmte Schulen, Krankenhäuser, Restaurants oder Toiletten anders als ihre weißen Mitbürger nicht betreten, im Bus müssen Schwarze hinten sitzen. Im Alltag werden sie diskriminiert und ausgegrenzt, auch mit Gewalt. Rassistisch motivierte Verbrechen und Lynchmorde an Schwarzen sind im gesamten Süden keine Seltenheit. In Mississippi sind 1955 bereits mehrere Schwarze auf offener Straße ermordet worden. Am 13. August etwa wird Lamar Smith erschossen, als er im Hof des Gerichtsgebäudes in Brookhaven Afroamerikanern dabei hilft, Unterlagen für eine Stichwahl zu beantragen.
Brookhaven ist rund 200 Kilometer von Money entfernt, wo die Halbstarken um Emmett Till am Abend des 24. August 1955 erschrocken vor dem Laden der Bryants stehen. Schnell fahren die verängstigten Jugendlichen zurück zum Haus des Großonkels, sie fürchten Konsequenzen.

Einige Tage später hämmern zwei bewaffnete weiße Männer an der Tür ihrer Unterkunft: Es sind Roy Bryant und sein 36-jähriger Halbbruder John William "J. W." Milam, die nach einem Jungen aus Chicago fragen. Mit Taschenlampen in der einen und Pistolen in der anderen Hand durchsuchen die Weißen die Zimmer. Sie wecken die Hausbewohner und beschimpfen sie. Sie sagen, sie wollten Emmett für das, was er getan habe, auspeitschen und würden ihn dann wieder zurückbringen. Familienangehörige berichten später, sie hätten den Männern Geld angeboten, damit sie den Jungen verschonen. Doch Bryant und Milam lehnen ab. Gewaltsam holen sie Emmett aus seinem Bett und entführen ihn aus dem Haus. Am 28. August 1955 um drei Uhr nachts verlässt der 14-Jährige gefesselt auf der Ladefläche eines Pick-ups das Grundstück seines Großonkels. Es sind die letzten Augenblicke, in denen seine Familie ihn lebend sieht.
Ein offener Sarg in Chicago
Drei Tage später entdecken zwei Jungen, die am Ufer des Tallahatchie River spielen, einen Toten. Der Leichnam ist beinahe bis zur Unkenntlichkeit entstellt: Um den Hals ist Stacheldraht gewickelt, ein mehr als 30 Kilogramm schwerer Ventilator hängt an dem nackten Körper. Die Nase ist zertrümmert, die Zunge hängt abgeschnitten aus dem Mund, ein Auge baumelt aus der Augenhöhle, ein Einschussloch klafft im Schädel, einige Gliedmaßen und seine Genitalien fehlen. Nur wegen eines gravierten Silberrings, den der Tote noch am Finger trägt, können die Verwandten die entstellte Leiche als Emmett Louis Till identifizieren.

Die lokalen Behörden in Mississippi versuchen so schnell wie möglich eine Beerdigung zu arrangieren. Doch Emmetts Mutter Mamie Till-Mobley verhindert die Beisetzung in Mississippi im letzten Moment. Sie lässt den Leichnam nach Chicago überführen. Dort öffnet sie den Sarg und bricht beim Anblick ihres toten Sohnes zusammen. Die Mutter entscheidet, die Beerdigung solle im offenen Sarg stattfinden, damit die Welt sehen kann, was ihrem Jungen angetan wurde. Am 6. September 1955 kommen Tausende Menschen in die Roberts Temple Church of God in Christ, um Emmett Till die letzte Ehre zu erweisen. Der Anblick seiner geschundenen Leiche während des Gottesdienstes ist schwer auszuhalten. Zeitungen veröffentlichen Bilder, die Entsetzen und Empörung hervorrufen.
Ein Prozess vor einer weißen Jury
In Mississippi ermitteln die lokalen Behörden. Schnell werden Bryant und Milam als Hauptverdächtige angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, Emmett Till vorsätzlich und in böswilliger Absicht entführt, gefoltert und ermordet zu haben. Bei einem Schuldspruch könnte gegen die Männer die Todesstrafe verhängt werden. Doch weder Bryant noch Milam werden jemals verurteilt.
Noch im September 1955 findet ein Prozess statt. Der Gerichtssaal in Sumner, Mississippi, ist überfüllt, viele Weiße aus der Gegend sind gekommen, um die Angeklagten zu unterstützen. Sie haben Spenden gesammelt, um ihre Verteidigung zu finanzieren. Die Afroamerikaner stehen hinten im Saal. Emmett Tills Großonkel Moses Wright zeigt auf Bryant und Milam und identifiziert sie als Emmets Entführer, damals eine mutige Geste. Einem Zeugen, der über Schreie in einer Scheune berichtet, wird mit Schlägen und dem Tod gedroht. An einigen Tagen bringen die Angeklagten ihre Ehefrauen und ihre kleinen Kinder mit auf die Anklagebank. Carolyn Bryant sagt unter Eid aus, Emmett habe ihr Avancen gemacht, sie verbal belästigt und ihr hinterhergepfiffen. Milam und Bryant schweigen. Nach fünf Verhandlungstagen spricht eine Jury aus zwölf weißen Männern sie in allen Anklagepunkten frei.

Ein Ruf nach Gerechtigkeit
Ihr Freispruch löst Proteste der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten aus. Eine Gruppe schwarzer Bürgerrechtler wendet sich in einem Brief direkt an den Präsidenten Dwight D. Eisenhower: "Der brutale Lynchmord an Emmett Till ist eine der barbarischsten Gräueltaten, die jemals an einem Kind in der Geschichte der Menschheit verübt wurde. Er erfordert ein sofortiges Eingreifen der Bundesbehörden, um alle für dieses abscheuliche Verbrechen verantwortlichen Personen strafrechtlich zu verfolgen." Zudem fordern die Bürgerrechtler ein Anti-Lynchmord-Gesetz. Erst 2022 wird in den USA der Emmett-Till-Anti-Lynching-Act verabschiedet, der Lynchjustiz als Hassverbrechen verfolgt und mit bis zu 30 Jahren Gefängnis bedroht.
Im Dezember 1955 wird die schwarze Schneiderin Rosa Parks in Montgomery im Nachbarstaat Alabama festgenommen, weil sie sich weigert, ihren Sitzplatz im Bus einem weißen Fahrgast zu überlassen. Bei ihrer Protestaktion soll sie an Emmett Till gedacht haben. Sein Lynchmord ist ein Initiationsmoment für die US-Bürgerrechtsbewegung.
Ein "Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte"
Anfang 1956 veröffentlicht das "Look"-Magazin ein Geständnis von Milam und Bryant. Für 4000 US-Dollar haben die Täter ihr Schuldbekenntnis verkauft. Strafrechtliche Verfolgung müssen sie nicht fürchten. Der "Double Jeopardy Act" verhindert, dass Angeklagte zweimal für dasselbe Verbrechen vor Gericht gestellt werden können.
Mehrfach werden die Untersuchungen in dem Fall wieder aufgenommen, unter anderem vom FBI.2021 finden Ermittler im Keller eines Gerichtsgebäudes einen Haftbefehl gegen Carolyn Bryant aus dem Jahr 1955, der nie vollstreckt wurde. Die Ladenbesitzerin, deren Beschuldigungen den Lynchmord an Emmett Till ausgelöst hatten, ändert im Laufe der Jahrzehnte immer wieder ihre Darstellungen der Ereignisse jenes Augustabends. Zum Teil leugnet sie nun, sich erinnern zu können, zum Teil räumt sie ein, einige ihrer Aussagen vor Gericht seien nicht wahr gewesen. 2022 lehnt eine Jury eine offizielle Anklage aus Mangel an Beweisen ab. Die strafrechtliche Verfolgung des Lynchmordes an Emmett Till ist bis heute ein Symbol für das Versagen der Justiz vor rassistischer Gewalt in den USA.
Kurz vor dem 70. Jahrestag des rassistischen Gewaltaktes veröffentlicht das Nationalarchiv der USA Akten, die die Reaktion der damaligen Regierung auf den Lynchmord dokumentieren. Das Nationalarchiv bezeichnet die Publikation als "Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte". "Die Familienangehörigen von Emmett sowie Historiker und die breite Öffentlichkeit haben ein Recht auf ein vollständiges Bild der Reaktion der Bundesregierung", sagt Margaret Burnham, die Gründerin des Civil Rights and Restorative Justice Project, gegenüber BBC. "Die Geschichte von Emmett Till und dem ihm widerfahrenen Unrecht wird noch immer geschrieben, aber diese Dokumente bieten eine längst überfällige Klarheit." Bis heute wurde niemand strafrechtlich für den Lynchmord an Emmett Till verurteilt.