Um 1900 ist Berlin die modernste und am rasantesten wachsende Metropole Europas und das Tempo, in dem sich die Stadt verändert, für manche erschreckend. Neue Pracht- und Flanierstraßen entstehen in der alten Garnisons- und Residenzstadt, die noch zwei Generationen zuvor eher provinziell daherkam, Wohn- und Kaufhäuser werden in unfassbarer Schnelligkeit in die Höhe gezogen, Cafés, Theater, Fabriken und Werkstätten.
Zwei Millionen Menschen leben um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Stadt an der Spree – und sie sind scheinbar ständig in Bewegung: 3386 Trambahnwagen, 726 Omnibusse und 8109 Droschken befördern sie durch die Straßen.
Ab 1904 mischen sich noch weitere Gefährte dazwischen. Fahrräder und bald auch Automobile mit dem markanten, geschwungenen Schriftzug "B.Z. am Mittag", die heute vor 120 Jahren zum ersten Mal erscheint. Ein modernes Blatt, das sich der Aktualität verschrieben hat, passend zur Stadt, deren Namen sie abgekürzt im Titel trägt.
Der Verkaufsort ist eine Sensation
Mehr noch: Die "B.Z. am Mittag" gibt es ausschließlich auf der Straße zu kaufen, also dem Boulevard; nicht wie die Blätter der zahlreichen Konkurrenz nur im Abonnement. Deutschland hat seine erste Boulevardzeitung.
Der 22. Oktober 1904 ist ein Samstag. In großen Lettern prangt die Zeile "Sturm auf Port Arthur" über den Russisch-Japanischen Krieg auf der Titelseite der Erstausgabe, darunter – wie es heißt – ein "eigener Drahtbericht" vom Schauplatz des Geschehens auf der anderen Seite der Welt. Denn die "B.Z. am Mittag" fängt nicht bei null an. Sie ist die Fortentwicklung der 1877 gegründeten "Berliner Zeitung", die seit 1878 dem Verlagshaus Ullstein gehört und über ein ansehnliches Netzwerk nationaler und internationaler Korrespondenten verfügt. Bisher ist die Zeitung wie alle anderen Berliner Blätter auch als Morgen- und Abendausgabe erschienen. Jetzt kann man sie als "B.Z. am Mittag" um Punkt 13 Uhr für fünf Pfennig erwerben, und zwar dort, wo die meisten Menschen sind: auf den Bürgersteigen der pulsierenden Metropole des Kaiserreichs.
Regulärer Redaktionsschluss ist eine Stunde vorher, um 12 Uhr. Manchmal vergehen zwischen dem Eingang einer Meldung, etwa Börsenkursen, und deren Druck aber auch nur wenige Minuten. Die Redaktion kann aktueller und ausgeruhter berichten als die Morgenzeitungen und früher auf das Zeitgeschehen reagieren als die Konkurrenz am Abend. Zudem sind die Druckmaschinen nun über den ganzen Tag ausgelastet. Ein weiterer Vorteil für den Verleger.
Das Konzept der "schnellsten Zeitung der Welt", so die Eigendarstellung, verfängt. Bereits 1905 stellt Ullstein die Früh- und die Spätausgabe der alten "Berliner Zeitung" wegen des gewaltigen Erfolgs des neuen Boulevardblattes ein.