Mehr als die Hälfte aller 2015 lebenden US-Amerikaner war noch in der Kindheit bedenklichen Mengen Blei ausgesetzt. Dies hat einer Studie zufolge die Gehirnleistung beeinträchtigt und den Intelligenzquotienten (IQ) der Betroffenen um durchschnittlich 2,6 Punkte gesenkt. Das berichtet eine Gruppe um Aaron Reuben von der Duke University in Durham (US-Bundesstaat North Carolina) in den "Proceedings" der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften ("PNAS").
"Blei kann in den Blutkreislauf gelangen, sobald es als Staub eingeatmet oder verschluckt oder in Wasser aufgenommen wird", wird Reuben in einer Mitteilung seiner Universität zitiert. Je nach Menge kann das Schwermetall Vergiftungen bis hin zum Tod verursachen. Doch auch kleinere Mengen können das Nervensystem schädigen, denn die Blut-Hirn-Schranke, die viele schädliche Stoffe vom Gehirn fernhält, ist für Blei durchlässig. Der Zusammenhang zwischen Bleibelastung im Blut und geringeren IQ-Werten sei gut untersucht, betont das Team.
Blei wird bis heute in zahlreichen Industrieprodukten verwendet, etwa in Autobatterien. In der Vergangenheit war die US-Bevölkerung dem Schwermetall durch bleihaltige Wasserrohre und Farben ausgesetzt, vor allem aber durch Tetraethylblei als sogenanntes Antiklopfmittel im Fahrzeugkraftstoff. Dadurch führten insbesondere Autoabgase zu hohen Bleiwerten im Blut von ein- bis fünfjährigen Kindern. Diese reagieren wegen ihres schnellen Wachstums und ihrer Gehirnentwicklung besonders sensibel auf schädliche Substanzen in der Umwelt.
Wegen etlicher Verbote und Schutzmaßnahmen weisen Kinder in den USA heute nur noch geringe Bleibelastungen auf - doch der Bleigehalt in Kraftstoffen wurde in den USA und auch in Deutschland erst seit den 1970er Jahren eingeschränkt. Reuben und Kollegen wollten herausfinden, wie es in der Gesamtbevölkerung der USA aussieht. Seit 1976 wird der Bleiblutwert im Rahmen des National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) untersucht, einer Erhebung zu Gesundheit und Ernährung von Kindern und Erwachsenen. Um Werte bis zurück zum Geburtsjahrgang 1940 zu erhalten, führten die Forscher Modellrechnungen auf Basis des Verbrauchs von bleihaltigem Treibstoff durch.
Demnach hatten mehr als 54 Prozent der 2015 in den USA lebenden 318,5 Millionen Menschen in ihrer Kindheit Werte von 5 Mikrogramm Blei pro Deziliter Blut. Dies galt lange Zeit als Referenzwert für klinische Bedenken, im November 2021 wurde der Wert sogar auf 3,5 Mikrogramm pro Deziliter abgesenkt. Die Wissenschaftler verwendeten sieben Kategorien von Bleiblutwerten - bis hin zu mehr als 30 Mikrogramm pro Deziliter, was ihnen zufolge einen IQ-Wert-Verlust von 7,4 Punkten bedeutet. Dieser Konzentration waren etwa sieben Prozent der 1966 bis 1975 geborenen Kinder ausgesetzt. Bei diesen Menschen ist der IQ den Berechnungen zufolge um durchschnittlich 5,9 Punkte niedriger, als er ohne Bleibelastung wäre.
Weltweit haben ein Drittel aller Kinder zu hohe Bleiwerte im Blut
"Obwohl sich diese Schätzungen auf die USA beziehen, trat das gleiche Phänomen wahrscheinlich in allen entwickelten Ländern auf und ist in den meisten Entwicklungsländern ein aktuelles Problem", schreiben die Forscher. So kam 2020 ein Bericht von Pure Earth und UNICEF zu dem Schluss, dass weltweit ein Drittel aller Kinder - rund 800 Millionen - zu hohe Bleiwerte im Blut aufweisen. In Entwicklungsländern führe unter anderem die unsachgemäße Entsorgung von Autobatterien dazu, dass Menschen Blei ausgesetzt sind.
Das Team um Reuben geht davon aus, dass ihre Studie die Bleiblutwerte eher unter- als überschätzt. Denn die Belastung durch bleihaltige Rohre und andere Gegenstände oder die Bodenverseuchung durch das Blei in Abgasen blieben in der Betrachtung außen vor. Die Wissenschaftler regen Untersuchungen zu möglichen anderen Folgen erhöhter Blutbleiwerte an. Dazu zählen ihnen zufolge etwa kriminelles Verhalten, Psychopathologien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Einschränkungen der Nierenfunktion und pathologische Alterung des Gehirns.