Wenig genetischer Austausch Starb der Neandertaler aus, weil er zu isoliert lebte?

Ludovic Slimak zeigt den Kiefer des Neanderthalers
Ludovic Slimak, Entdecker der Überreste von "Thorin", zeigt den Kiefer des Neanderthalers
© Laure Metz
Neandertaler lebten vor einigen Zehntausend Jahren wohl eher in isolierten Gruppen, während es beim modernen Menschen mehr genetischen Austausch gab. Diese Inzucht könnte verhängnisvoll gewesen sein

Eine wichtige Rolle beim Aussterben der Neandertaler könnte deren gesellschaftliche Organisation in kleinen, isolierten Gruppen gespielt haben. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam auf der Basis genetischer Analysen des Erbguts von bestimmten Neandertalern, die vor etwa 40.000 bis 50.000 Jahren lebten. 

Ausgangspunkt der aktuellen Studie war ein Neandertalerskelett, das 2015 in der Grotte Mandrin im Rhônetal in Südfrankreich entdeckt worden war. Die Gruppe um Ludovic Slimak von der Universität Paul Sabatier in Toulouse (Frankreich) und Martin Sikora von der Universität Kopenhagen (Dänemark) veröffentlichte ihre Erkenntnisse im Fachjournal "Cell Genomics".

Einer der letzten seiner Art in der Region

Die Überreste des männlichen Neandertalers, den die Forschenden "Thorin" genannt haben, lagen in der Grotte in zwei Schichten, die Altersbestimmungen zufolge 42.000 bis 52.000 Jahre alt sind. Ausgrabungen vom Sommer 2023 deuten darauf hin, dass die Fossilien von "Thorin" eher in die oberste Schicht gehören.  "Diese jüngsten Erkenntnisse legen in starkem Maße nahe, dass "Thorin" eher etwa 42.000 als etwa 50.000 Jahre alt ist und dann einer der allerletzten Neandertaler in dieser Region war", schreiben die Studienautoren.

Kiefer des Neandertalers "Thorin"
Kiefer des Neandertalers "Thorin"
© Ludovic Slimak

"Thorins" Erbgut über 105.000 Jahre kaum verändert

Den Wissenschaftlern gelang es, aus der Wurzel eines Backenzahns von "Thorin" genetisches Material zu gewinnen, das dann analysiert werden konnte. Sie verglichen es in statistischen Analysen mit vier anderen Genomen von Neandertalern, die vor nicht mehr als 50.000 Jahren lebten, sowie mit älterem Neandertaler-Erbgut. 

Neandertalerskelett in der Grotte Mandrin
Das Neandertalerskelett war 2015 in der Grotte Mandrin im Rhônetal in Südfrankreich entdeckt worden
© Ludovic Slimak

"Thorin" stammt demnach aus einer anderen Linie als die anderen jüngeren Neandertaler, deren Genmaterial bekannt ist. Am ähnlichsten ist "Thorins" Erbgut dem Genom eines Neandertalers, dessen Fossilien in Gibraltar gefunden wurden.

Aus früheren genetischen Analysen ergab sich, dass sich vor etwa 105.000 Jahren die Abstammungslinien von Neandertalern in Sibirien und anderen östlichen Regionen von denen in Mittel- und Westeuropa trennten. Slimak, Sikora und der Rest des Teams stellten fest, dass sich "Thorins" Erbgut seit dieser Zeit kaum verändert hat. Auch weist das Genom wenig genetische Vielfalt auf. 

Inzucht in isolierten Gruppen

Bei "Thorin" sind Varianten eines Gens, die er von Mutter und Vater erhalten hat, sehr häufig gleich. Dies gilt als Hinweis auf Inzucht. "Wir wissen, dass Inzucht die genetische Vielfalt in einer Population verringert, was sich auf längere Sicht nachteilig auf ihre Überlebensfähigkeit auswirken kann", erläutert Sikora.

Dies seien Hinweise darauf, dass die späten Neandertaler in isolierten Gruppen lebten, die weder mit anderen Neandertalern noch mit den modernen Menschen Partnerschaften eingingen, heißt es in der Studie.

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Paarungsnetzwerke bei Homo sapiens

Moderne Menschen waren hingegen stärker vernetzt und tauschten sich aus, selbst wenn sie in kleineren Gruppen lebten. "Wir sehen Beweise dafür, dass frühe moderne Menschen in Sibirien, während sie in kleinen Gemeinschaften lebten, sogenannte Paarungsnetzwerke bildeten, um Inzuchtproblemen zu entgehen, was wir bei Neandertalern nicht gesehen haben", meint Tharsika Vimala von der Universität Kopenhagen, eine Co-Autorin der Studie.

Der Neandertaler (Homo neanderthalensis) ist eine Menschenart, die in Europa und Asien parallel zum modernen Menschen (Homo sapiens) gelebt hat und vor etwa 40.000 Jahren ausgestorben ist. Genetische Studien ergaben, dass es mehrfach durch gemeinsame Nachkommen zu einem Genaustausch zwischen beiden Menschenarten gekommen sein muss. 

In Südfrankreich war dies offenbar nicht der Fall, obwohl in der Grotte Mandrin auch 54.000 Jahre alte Spuren von Homo sapiens nachzuweisen sind. Womöglich hat es sogar mehrere Wechsel der Nutzung der Grotte durch Neandertaler und moderne Menschen gegeben. Aber im Genom von "Thorin" gibt es keine Hinweise darauf, dass unter seinen Vorfahren auch moderne Menschen waren.

Stefan Parsch, dpa