Sie verspeisten Vögel und Hirsche, Waldelefanten und Wollnashörner: Die Vorstellung der fast ausschließlich Fleisch essenden Neandertaler hält sich hartnäckig. Das liegt vor allem an den hohen Werten von Stickstoff, die sich in den Gebeinen der Neandertaler fanden. Genauer: Im Verhältnis seiner Isotope.
Stickstoff existiert in zwei stabilen Isotopformen, einer leichteren und häufigen sowie einer schweren und seltenen. Aus dem Verhältnis beider Formen erfahren Forschende etwas über den Speiseplan längst Verstorbener. So enthalten die Knochen von reinen Pflanzenfressern nur geringe Werte des schweren Stickstoffisotops, das in Pflanzen kaum enthalten ist. Die Knochen reiner Fleischfresser hingegen enthalten hohe Werte. Mit jedem Beutetier, das sie verspeisen, steigt auch der Anteil der schweren Stickstoffisotope in ihrem Körper.
Neandertaler könnten große Mengen Maden verspeist haben
Die Anteile der schweren Stickstoffisotope der Neandertaler-Überreste liegen typischerweise auf dem Level von Raubtieren an der Spitze der Nahrungskette, von Löwen und Hyänen etwa. Lange galten Neandertaler deshalb als reine Fleischfresser, als begnadete Jäger. Nun weiß die Forschung längst, dass unsere entfernten Verwandten nicht sich ausschließlich von Fleisch ernährt haben können. Wahrscheinlich waren sie Allesfresser. Wenn die Jagd scheiterte, gab es eben Beeren, Wurzeln, Gemüse.
Doch woher stammen dann die außergewöhnlich hohen Anteile schwerer Stickstoffisotope in ihren Knochen?
Ein Forschungsteam um die US-amerikanische Anthropologin Melanie Beasley macht nun einen Lösungsvorschlag. Neandertaler, schreiben Beasley und ihre Kolleg*innen in ihrer in der Fachzeitschrift "Science Advances" erschienenen Studie, könnten große Mengen Maden verspeist haben.
Die Vermutung fußt auf einer These, die Beasleys Co-Autor John Speth bereits vor einigen Jahren postuliert hat. Demnach aßen Neandertaler durchaus verdorbenes Fleisch, ließen ihre Beute womöglich sogar absichtlich verfaulen und warteten darauf, dass sich schmackhafte Maden daran labten – eine Praxis, die Speth auch bei vielen Indigenen der Neuzeit beschreibt.

Für ihre aktuelle Studie untersuchten die Forschenden, wie sich die Madendiät auf den Anteil schwerer Stickstoffisotope ausgewirkt haben könnte. Das Ergebnis: Maden, die sich von verfaulendem Muskelgewebe ernährten, enthielten um ein Vielfaches höhere Anteile schwerer Stickstoffisotope als alle anderen Fleischfresser.
Damit, so schreiben die Forschenden um Melanie Beasley, seien die hohen Werte in den Neandertalergebeinen zumindest teilweise zu erklären. Ein Neandertaler könnte neben Fleisch auch andere Lebensmittel verspeist haben und dennoch die Stickstoffwerte eines reinen Fleischfressers aufweisen – wenn er denn nur genug Maden gegessen hat.
Zugleich räumen Beasley und ihr Team ein, dass Maden allein die hohen Werte vermutlich nicht restlos erklären können. Das Rätsel um den vor rund 40.000 Jahren ausgestorbenen Fleischliebhaber bleibt der Forschungsgemeinde also noch eine Weile erhalten.