Als Richard McGowan an einem lange geheim gehaltenen Ort in Westlondon eine Frikadelle briet, ging eine Vision in Erfüllung. Behutsam löffelte der Koch heißes Fett auf das Stück Fleisch, sichtlich nervös schwenkte er seine Pfanne. Goldbraun und kross sollte das Burgerpattie werden; anbrennen durfte es unter keinen Umständen. Schließlich brutzelten hier Produktionskosten von etwa 300.000 US-Dollar.
Die Verköstigte, eine Essensforscherin aus Österreich, ließ auf ihrem Teller liegen, was unter normalen Umständen zu einem echten Burger gehört: zwei Brötchenhälften, eine Tomatenscheibe, Salatblätter. Sie schnitt einen schmalen Streifen vom Fleisch der Frikadelle, roch zwei Mal daran und kaute. "Ich hätte erwartet, dass die Textur weicher wäre", sollte sie später sagen. Das Fleisch sei etwas mager, befand auch der zweite Testesser, ein US-Journalist. Er vermisse das Fett.
Viel entscheidender für Mark Post, den Vater der Frikadellen-Vision, waren jedoch andere Sätze. "Da ist ein ziemlich intensiver Geschmack, nah dran an Fleisch", sagte die Essensforscherin. Auch der Journalist bestätigte: "Das Mundgefühl ist wie bei Fleisch."

Die Frikadelle, die die beiden vor über zehn Jahren, im August 2013, probiert haben, gilt als weltweit erstes Burgerpattie, das nicht aus dem Muskelgewebe einer echten Kuh geschnitten und durch den Fleischwolf gedreht, sondern im Labor gezüchtet wurde. Man stehe noch am Anfang der Entwicklung, sagte Mark Post, gelernter Pharmakologe und Mitbegründer des Unternehmens Mosa Meat, damals. Doch schon in fünf bis zehn Jahren seien Rinderlasagnen aus dem Labor denkbar. Das In-vitro-Fleisch werde dann günstig genug produziert, um es in Supermärkten zu verkaufen.
Und tatsächlich kann man Laborfleisch seit einiger Zeit in Restaurants in Singapur und den USA bestellen. Weltweit tüfteln über 50 Start-ups daran, Form und Geschmack zu verbessern. Um nicht nur Burgerpatties, sondern "echte" Steaks herstellen zu können, drucken sie das Muskelgewebe mit 3-D-Druckern. Auch forschen sie längst nicht mehr nur an Rindfleisch, sondern nutzen Stammzellen von Fischen, um etwa Fischnuggets herzustellen. Und arbeiten mit Hochdruck daran, die wohl größte Hürde für Laborfleisch in Supermarktregalen abzubauen: die Kosten.
Gelingt ihnen bald der große Durchbruch?
Ist das vegan? So wird Fleisch im Labor gezüchtet
Um Fleisch im Labor zu züchten, braucht es Stammzellen aus dem Muskel eines Tieres. Stammzellen sind in der Lage, eine Kopie von sich hervorzubringen, indem sie sich teilen. Jedoch entstehen dabei zwei verschiedene Zellarten.
Eine der neu hervorbrachten Zellen trägt die gleichen Eigenschaften wie die Mutterzelle: Die Stammzelle erneuert sich selbst. Die zweite Zellart entwickelt sich zu einer spezialisierten Zelle: Sie "differenziert" sich und reift zu einem Zelltyp, der nötig ist, um konkrete Körperfunktionen aufrecht zu erhalten. Zum Beispiel wird aus ihr eine Zelle, die Muskelgewebe bildet.
Fötales Kälberserum bildet die Grundlage für das Nährmedium
In Laboren filtern teure Zellsortierungsmaschinen die Stammzellen aus Muskelgewebe, das einem lebenden oder frisch geschlachtetem Tier entnommen wird, und isolieren sie.
Anschließend teilen sich die Stammzellen in einem Bioreaktor. Das Nährmedium im Reaktor besteht aus Zucker, Aminosäuren, Mineralien und Vitaminen – aber eben auch aus fötalem Kälberserum. Um es zu gewinnen, muss eine trächtige Kuh geschlachtet werden. Das Serum wird dem noch schlagenden Herzen ihres Fötus entnommen.
Weil die Methode heftige Kritik von Tierschützern auf den Plan ruft und dazu sehr teuer ist, arbeiten Unternehmen seit Langem an möglichen Alternativen – mit Erfolg. In einer im Januar 2022 im Fachmagazin Nature Food erschienen Studie stellte Mosa Meat ein neues, patentiertes Verfahren vor, um ein Nährmedium zu synthetisieren. Es verhält sich laut den Autoren ähnlich wie Kälberserum und sei für die Zellkultivierung geeignet. Auch andere Unternehmen geben an, mittlerweile ohne Kälberserum auszukommen. Große Hoffnungen werden in pflanzliche Ersatzstoffe gesetzt, die etwa aus Algen gewonnen werden.
Hack oder echtes Steak? Laborfleisch aus dem 3-D-Drucker
Um eine Struktur zu erzeugen, die Muskelgebewebe ähnelt, wachsen die Zellen auf einer Art Raster: dem Trägergerüst. Dabei entsteht jedoch eher ein Zellhaufen als gut trainierte Muskelfasern, die sich zu einem Strang vereinen, wie es etwa bei den Hinterläufen eines Schweines der Fall ist. Im Moment wird das Fleisch aus dem Labor deshalb mit künstlichen Fettzellen vermengt und durch den Fleischwolf gejagt. Aus dem Labor-Hackfleisch entstehen Produkte, deren äußere Form egal ist, solange sie wie an Tieren gewachsenes Fleisch schmecken: Nuggets, Frikadellen und Burgerpatties, Hackbraten.

Um auch Haxen, Steaks oder Lenden aus dem Labor anbieten zu können, tüfteln Forschungsteams an Methoden, Laborfleisch zu trainieren: Künstliche Reize sollen die Muskelzellen zum Wachstum anregen, ihrer Gesamtheit eine einigermaßen natürliche Form verleihen. Von der Marktreife sind diese ersten Versuche jedoch weit entfernt.
Ein anderer Ansatz ist Bioprinting. Mit einem 3-D-Drucker werden die künstlichen Muskel- und Fettzellen aufeinandergeschichtet und miteinander verbunden, sodass im Idealfall eine Struktur entsteht, die der tierischer Muskelstränge ähnelt. Auch hier gilt: Bis Laborfleisch aus dem 3-D-Drucker auf dem Markt kommt, das einem Rumpsteak ähnelt, dauert es wohl noch.
Schon Winston Churchill prophezeite Fleisch aus dem Labor
Bislang konzentrierten sich die meisten Unternehmen auf die Entwicklung und die Produktion von In-vitro-Rindfleisch. Der Grund liegt in der Vision des Laborfleischs selbst: Es soll nicht nur das moralische Dilemma lösen, Tiere töten zu müssen, um Fleisch zu essen. Auch der enorme Ressourcenverbrauch, der damit einhergeht, ein Schlachttier zu füttern und zu mästen, stehe in keinem Verhältnis zum Resultat, betonen die vielen Start-up-Gründer in der Laborfleischszene - ein Argument, das bereits Winston Churchill hervorbrachte. Es sei absurd, "ein ganzes Huhn zu mästen, um seine Brust oder seinen Flügel zu essen". In Zukunft, so prophezeite der britische Premier 1931, werde man diese Körperteile einzeln züchten: "in einem geeigneten Medium".
Die Viehzucht, so kalkuliert die UN-Organisation für Ernährungs- und Landwirtschaft, sei für etwa 14,5 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich. Knapp die Hälfte dieser Emissionen stammen aus der Produktion und der Verarbeitung von Futtermitteln, hinzu kommt das Methan, das besonders Rinder, aber auch andere Wiederkäuer in großen Mengen in die Atmosphäre pupsen.
Auch die gigantischen Landflächen, die von der Viehhaltung verschlungen werden, sind ein Problem: Laut dem von der Heinrich-Böll-Stiftung erstellten "Fleischatlas" werden etwa 70 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Fläche genutzt, um Futter anzubauen oder Tiere zu weiden. Auch der Wasserverbrauch sei enorm: In ein Kilo Rindfleisch fließen im Schnitt 15.415 Liter Wasser – was je nach Haltungsart sehr variieren und in großen Teilen auch durch Regenwasser erfolgen kann.
Klimabilanz: Ist Laborfleisch wirklich gut für die Umwelt?
All diese Umweltschäden verursacht Fleisch aus dem Labor nicht. Und dennoch: Vollkommen klimaneutral lässt sich auch solches Fleisch bislang kaum produzieren. Im Jahr 2021 hat die Beratungsfirma CE Delft hochgerechnet, wie Laborfleisch im Vergleich zu dem von echten Tieren der industriellen Landwirtschaft Westeuropas abschneidet. Untersucht wurden die Treibhausgas- und Feinstaubemissionen, der Land- und Wasserverbrauch sowie die "Toxizität für Menschen".
Selbst wenn nur Milchkühe geschlachtet würden, erzielte Rindfleisch laut der Studie mit weitem Abstand die schlechteste Umweltbilanz. Huhn- und Schweinefleisch hingegen schnitten sogar etwas besser ab als Fleisch, das im Labor gezüchtet wurde – allerdings nur, solange mit Laboren gerechnet wird, die auf konventionelle Energieträger setzen. Sobald die Energie für die Laborfleischproduktion aus erneuerbaren stammte, war das Laborfleisch die umweltfreundlichste Fleischvariante. Die mit weitem Abstand geringsten Umweltschäden verursacht laut Studie eine vollkommen pflanzenbasierte Ernährung.
Auch Fischbällchen kommen bald aus der Petrischale
Hochrechnungen dieser Art beinhalten jedoch eine sehr unsichere Variable. Die Laborfleischproduktion steckt noch in den Kinderschuhen und hat – zumindest den Aussagen der Unternehmen sowie unabhängiger Experten zufolge – großes Entwicklungspotenzial, was die Effizienz und damit auch den Energieverbrauch angeht. So konzentrierten sich die meisten Unternehmen bis vor wenigen Jahren noch auf die Produktion von Rindfleisch. Für andere Fleischsorten wurden die Einsparpotenziale als zu gering bewertet. Heute stellen Unternehmen längst andere Fleischsorten, etwa Hühnchen, im Labor her und arbeiten daran, die Produktion hochzufahren: Kleine Pilotanlagen sollen großen Fabriken weichen.
Zugleich erhöhen die immer spürbareren Auswirkungen der Klimakrise den politischen Druck, Alternativen zur konventionellen Nutztierhaltung zu finden. Ähnliches gilt für den Fischfang und für Fischfarmen – so experimentiert das Lübecker Start-up Bluu Seafood seit einigen Jahren mit im Labor gezüchtetem Fischfleisch. Ein Fischfilet ist dabei noch nicht herausgekommen, wohl aber kleine Fischbällchen, die frittiert werden können.
Wo gibt es Laborfleisch schon heute zu kaufen?
In Deutschland sind bislang weder die Fischbällchen von Seafood noch Laborfleisch zugelassen. Im Herbst 2023 jedoch stellte das Heidelberger Unternehmen The Cultivated B einen entsprechenden Antrag bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. Eine Entscheidung steht weiterhin aus. Italiens Rechtsregierung unter Giorgia Meloni schuf derweil Tatsachen und verabschiedete ein Verbot von Laborfleisch.

In Singapur hingegen darf Fleisch aus Bioreaktoren bereits seit 2020 vermarket werden. In Huber's Bistro wird Laborhühnchen serviert. Die wenigen Plätze sind meist ausgebucht, den übereinstimmenden Berichten einiger Reporterinnen und Reporter zufolge kostet eine Portion umgerechnet etwa 15 Euro. Produziert wird es vom kalifornischen Unternehmen Good Meat.
Und auch die US-amerikanische Lebensmittelbehörde FDA erteilte im Juni 2023 den Unternehmen Upside Foods und Good Meat die Genehmigung für den Verkauf von aus Zellkultur gezüchtetem Hähnchenfleisch: Es sei "genauso sicher wie vergleichbare Lebensmittel, die mit anderen Methoden hergestellt wurden". Bislang gilt die Genehmigung in den USA nur für den Verkauf im Restaurant, Supermärkte sind ausgeschlossen. Auch das, so lassen es die beteiligten Unternehmen verlautbaren, sei nur eine Frage der Zeit.