Neue Erkenntnisse Die bisherige Erklärung, warum wir auf Eis ausrutschen, war falsch

Frau balanciert unsicher auf einer glatten Buhne aus Eis am Meer
Bei Glatteis wird jeder Schritt zur waghalsigen Herausforderung
© Adobe Stock
Jahrzehntelang lehrten Schulen eine falsche Erklärung, warum Glatteis so rutschig ist. Ein Physikteam hat genauer hingeschaut – und räumt gleich mit einem weiteren Mythos auf

Dass Eis rutschig ist, haben die meisten von uns schmerzhaft lernen müssen. Ein unbedachter Schritt genügt, um den Halt unter den Füßen zu verlieren, aus der Balance zu geraten und hart auf dem Boden aufzuschlagen.

Aus der Sicht der Wissenschaft ist es aber keineswegs selbstverständlich, dass Eis rutschig ist. Schließlich ist Eis – in der Sprache der Physik – ein Festkörper, so wie ein Block Metall oder Holz. Auf solch harten Oberflächen können wir normalerweise problemlos laufen. Was also ist beim Eis anders? Lange glaubten Forschende, die Antwort gefunden zu haben. Doch nun hat sich gezeigt, dass die Lehrbücher eine falsche Erklärung liefern. 

Genau genommen ist Eis eben nicht per se rutschig. Erst wenn wir das Eis betreten, passiert etwas zwischen unseren Schuhsohlen und der Eisoberfläche, wodurch allein dieser Bereich rutschig wird. Aber was genau passiert da?

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Die bisher gängige Erklärung ist zwei Jahrhunderte alt und stammt vom britischen Ingenieur James Thomson (1822–1892). Die Physik lag ihm offenbar im Blut, denn sein Bruder Lord Kelvin ist heute noch berühmt als Namensgeber der Kelvin-Temperaturskala. James Thomson erklärte die Rutschigkeit von Eis mithilfe der damals neu entstandenen Thermodynamik. Demnach fließe Wärme von der Person auf das Eis über, es beginne zu schmelzen. Zudem übten die Schuhe mit all dem Gewicht der in ihnen steckenden Person Druck und Reibung auf das Eis aus, was die Verflüssigung weiter antreibe. Das Ergebnis sei eine dünne Schicht flüssigen Wassers zwischen Eis und Schuhsohle, durch die wir unseren Halt verlieren. 

Die Wissenschaft war 200 Jahre lang auf dem Glatteis

"Das stimmt beides nicht. Weder Druck noch Reibung haben einen großen Effekt auf die Bildung eines dünnen Flüssigkeitsfilms auf dem Eis", erklärt Martin Müser von der Universität des Saarlandes. Was stattdessen unter den Sohlen passiert, hat der Physiker mit seinen Kollegen Achraf Atila und Sergey Sukhomlinov an Computern simuliert. Ihre Ergebnisse erschienen in der renommierten Fachzeitschrift Physical Review Letters.

Es passiert nicht oft, dass eine Theorie, die die Fachwelt fast 200 Jahre einhellig vertrat, sich als falsch erweist. Aber die Simulationen zeigten eindeutig, dass Druck und Reibung nicht ausreichen, um das Eis über den Schmelzpunkt zu bringen. Doch was ist dann die Erklärung? Kalte, verschiebungsgetriebene Amorphisierung, ausgelöst durch Dipole. 

Dazu muss man wissen, wie ein Wassermolekül aufgebaut ist. Es besteht aus zwei positiven Wasserstoffatomen, die sich an eine Seite eines negativen Sauerstoffatoms hängen. Dadurch hat das Molekül eine elektrisch positive und eine negative Seite. Erspüren Wassermoleküle andere elektrische Ladungen, drehen sie sich so, dass die Ausrichtung ihrer Ladungen zu den anderen passt. Das Verhalten ähnelt kleinen Magneten, die gegenseitig ihre Ausrichtung beeinflussen. 

Computer Modell eines Wasser Moleküls
Ein Wassermolekül besteht aus drei Atomen: Zwei Wasserstoffatome (klein) hängen sich an eine Seite eines Sauerstoffatoms (groß). Das Sauerstoffatom entzieht dem Wasserstoff seine Elektronen, dadurch ist die Seite des Sauerstoff stärker elektrisch negativ geladen, die Seite der Wasserstoffe hingegen elektrisch positiv. Das Molekül verhält sich dadurch ähnlich einem kleinen Magneten: Wenn in der Nähe andere elektrische Ladungen sind, dreht es sich so, dass seine Ladungen dazu passend sind
© Pasieka, Alfred / Image Professionals

Unter null Grad Celsius bilden Wassermoleküle eine regelmäßige, geordnete Kristallstruktur. Fein säuberlich reiht sich ein Molekül ans andere. Fein säuberlich geordnet ist aber auch die Ausrichtung der Dipole: Die Moleküle legen sich so nebeneinander, dass ihre Ladungen einander nicht stören. Je geordneter die Moleküle sind, umso enger können sie zusammenrücken, umso fester sitzen sie zusammen.

Noch ein zweiter Mythos erwies sich als falsch

Tritt nun ein Schuh auf dieses wohlgeordnete Konstrukt, bringt er die oberste Molekülschicht durcheinander, denn auch auf der Schuhsohle sitzen Dipole. "Wenn dann ein Dipol des anderen Körpers, also der Schuhsohle, gerade die richtige Orientierung aufweist, sagt der dazu passende Dipol des Eises ‘Hey, da gehe ich mit!‘", umschreibt es Martin Müser. Manche Dipole der Eisschicht orientieren sich um und verlassen damit die angestammte Anordnung. Als würde man Kieselsteine in einen flachen See werfen, gerät die harmonische Oberfläche in Chaos. Für die Dipole gibt es keine simple Möglichkeit, sich neu zu ordnen, erklärt Müser: "Denn in drei statt zwei Dimensionen gibt es immer eine ‘frustrierte Wechselwirkung’".

Auf mikroskopischer Ebene verliert das kristalline Wasser also seine geordnete Struktur und wird ungeordnet, in der Fachsprache: amorph. Aus der Sicht eines Physikers schmilzt das Eis also nicht durch Wärme zu Flüssigkeit, sondern der kalte Stoff zerfällt in seine Einzelteile,  zu einer schmierenden Schicht. 

Neben dieser Erkenntnis, die rund 200 Jahre altes Wissen beiseite fegt, räumt das saarländische Team noch mit einer weiteren irrigen Annahme auf. Bisher gingen Forschende davon aus, dass man unter -40 Grad Celsius nicht mehr Ski fahren oder Schlittschuh laufen könne, denn Reibung und Druck produzierten zu wenig Wärme, um die Temperatur des Eises über den Schmelzpunkt zu erhöhen, es könne sich kein dünner Flüssigkeitsfilm mehr unter den Skiern oder Schlittschuhen bilden. Aber auch das ist falsch, erklärt der Materialphysiker Müser. Denn die anziehende Wirkung der Dipole funktioniere auch bei solchen tiefen Temperaturen noch tadellos. "Selbst nahe des absoluten Nullpunktes von -273 Grad Celsius entsteht ein flüssiger Film an der Grenzfläche von Eis und Ski." Dieser Film ist aber bei sehr niedrigen Temperaturen zähflüssiger als Honig, auf ihm ließe sich schlecht Ski fahren.

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Die Lehrbücher müssen nun umgeschrieben werden, Schülerinnern und Schüler müssen umlernen. Für jene allerdings, die sich im Winter auf die Nase legen, mag es herzlich egal sein, ob nun Druck, Reibung oder Dipole das Eis rutschig machte. Ihnen sei eine andere Erkenntnis ans Herz gelegt: Um die Gefahr von Stürzen zu minimieren, sollte man den Gang der Pinguine nachahmen.

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