Evolutionsgeschichte Der erste Kuss ist mehr als 17 Millionen Jahre alt

  • von Carlotta Wagner
2 Frauen küssen sich
Der Kuss ist vermutlich schon Millionen Jahre alt. Scheinbar haben schon unsere Vorfahren mit dem Neandertaler Speichel ausgetauscht.
© Dmytro Betsenko / Getty Images
Wir alle küssen: Menschen, Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas – und auch schon Neandertaler, fanden Forschende nun heraus. Warum?

Wir tun es, Affen tun es, sogar Eisbären tun es: Küssen. Der Kuss ist in Mensch- und Tierwelt weit verbreitet aber evolutionär betrachtet ein Rätsel. Küssen bringt keine direkten Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteile, kann jedoch eine Vielzahl von Krankheiten übertragen. Dennoch küssen Menschen, Schimpansen, Bonobos, Orang-Utans und Gorillas – was stark darauf hindeutet, dass diese Gewohnheit von einem gemeinsamen Vorfahren stammt. 

Woher kommt das Küssen und warum tun wir uns das an? Eine neue Untersuchung der Universität Oxford und des Florida Institute of Technology zeigt nun: Der erste Kuss ist vermutlich mehr als 17 Millionen Jahre her.

Forschende simulierten die Kuss-Evolution

Zuerst untersuchten die Forschenden, bei welchen afrikanisch-eurasischen Primaten das Küssen beobachtet wurde. Ein Kuss ist laut ihrer Definition eine nicht-aggressive Interaktion, bei der es zu gerichtetem Mund-zu-Mund-Kontakt zwischen zwei Individuen einer Art kommt – mit Bewegung der Lippen oder Mundwerkzeuge, aber ohne Nahrungsübertragung. Nach dieser Definition wird Küssen bei Tiergruppen wie Ameisen, Vögeln und Eisbären beobachtet, am häufigsten jedoch bei den Primaten.

Zwei Ameisen, deren Köpfe sich berühren
Was aussieht wie ein Kampf, ist eigentlich ein friedlicher Akt: Ein Ameisen-Kuss.
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Auch Daten zu Paarungssystem, Ernährung, Nahrungsverteilung und Vorkauen der Nahrung wurden gesammelt, da all dies das Küssverhalten beeinflussen könnte. Anschließend kombinierten sie diese Verhaltensdaten mit 10.000 Versionen genetischer Stammbäume der Primaten, weil die exakten Verwandtschaftsverhältnisse historisch nicht mit absoluter Sicherheit bekannt sind.

Mithilfe der Bayesianischen MCMC-Simulation, einer Computerberechnung, simulierten sie Millionen Male, wie sich das Küssen entlang dieser Stammbäume entwickelt haben könnte. Zusammengenommen ergeben die Simulationen ein Wahrscheinlichkeitsbild.

Unsere Vorfahren knutschten wohl mit Neandertalern

Das Ergebnis: Küssen tauchte vermutlich zuerst bei einem gemeinsamen Vorfahren der großen Menschenaffen auf – vor 21,5 bis 16,9 Millionen Jahren. Seitdem blieb es wohl erhalten. Nur bei einer Linie, den Ostgorillas, könnte es im Laufe der Zeit wieder verschwunden sein.

Ein Orang-Utan küsste einen anderen Orang-Utan
Kuss ist nicht gleich Kuss: Auch bei Tieren gibt es sowohl platonische, als auch sexuelle Küsse.
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Für Neandertaler ergibt das Modell eine Wahrscheinlichkeit von rund 84  Prozent, dass sie ebenfalls geküsst haben. Und anscheinend nicht nur innerhalb des Stamms, belegten bereits zuvor Untersuchungen von Mikroben im Mund der Neandertaler: Sie zeigten, dass sie mit dem frühen Homo sapiens Speichelbakterien austauschten. Wie romantisch dieser Kuss war, bleibt ungewiss.

Warum wir uns küssen, lässt sich nicht abschließend beantworten, aber die Studie zeigt: Küssen findet sich besonders häufig bei Arten mit mehreren Männchen im Paarungssystem – was die Idee stützt, dass es eine Rolle bei der Partnerwahl spielen könnte. 

"Manche Menschen vermuten, dass sexuelles Küssen eine Methode ist, um die Qualität oder Eignung eines Partners zu beurteilen", sagt Martina Brindle, Studienleiterin und Biologin an der Universität Oxford. "Alternativ könnte Küssen eine Art Vorspiel sein, das die sexuelle Erregung steigert und die Chance auf Befruchtung erhöht." Platonische Küsschen werden ihrer Ansicht nach verwendet, um komplexe soziale Beziehungen zu gestalten oder die Bindung zu stärken. 

Küssen als Vorspiel – oder doch ein Relikt des Nahrung-Vorkauens?

Außerdem zeigt sich bei allen beobachteten Kussarten Premastikation, Vorkauen – ein Hinweis darauf, dass das Küssen evolutionär aus dem Vorbehandeln von Nahrung entstanden sein könnte.

Obwohl die Studie einen evolutionären Ursprung des Küssens nahelegt, ist die Datenlage jenseits der großen Menschenaffen dünn — viele Arten wurden nur selten oder gar nicht systematisch beobachtet. Die Kategorisierung des Verhaltens als "Küssen vorhanden" oder "nicht beobachtet" erfasst zudem weder die Häufigkeit noch den Kontext. Außerdem beruhen Rückschlüsse über evolutionäre Ursachen auf statistischen Modellen und nicht auf direkten Verhaltensdaten, wodurch Unsicherheiten bleiben.

Die Studie soll als Ausgangspunkt für zukünftige Forschung über die Evolution des Küssens dienen. Sie soll dazu animieren, weitere Daten zum Kussverhalten verschiedener Tiere zu sammeln und Hypothesen experimentell zu testen, schreiben die Forschenden. "Zusammengenommen werden diese Ansätze uns helfen zu klären, ob ein Kuss mehr ist als nur ein netter Trick der Natur, um das Reden zu beenden, wenn Worte überflüssig werden", so Martina Brindle.