GEO: Frau Wilts, was machen Sie als Archäologin auf der italienischen Insel Lampedusa, dem Sinnbild der Flüchtlingskatastrophe?
Geesche Wilts: Archäologen graben nicht ausschließlich im Boden nach Jahrtausende alten Dingen. Sie erforschen auch Objekte der Gegenwart, von denen wir wissen, dass sie historisch einmal relevant sein werden. Auf Lampedusa untersuche ich Flüchtlingsboote, um die Realität an Bord zu rekonstruieren. Natürlich kennen wir aus den Nachrichten Bilder von angekommenen Geflüchteten, aber über die Überfahrten selbst wissen wir wenig. Da die Boote nach ihrer Ankunft auf Lampedusa schnell auf dem Schiffsfriedhof landen, müssen mein Assistent Jonathan Kündiger und ich sie jetzt dokumentieren.
Warum sprechen Sie nicht einfach direkt mit den Geflüchteten, die auf Lampedusa ankommen?
Davon abgesehen, dass die meisten direkt nach ihrer Ankunft extrem erschöpft sind und es Sprachbarrieren gibt, können Objekte Geschichten erzählen, die Zeuginnen und Zeugen in dem Moment gar nicht wichtig erscheinen. Oft gibt es Details, die sie zum psychischen Schutz verdrängt haben. Manche erinnern sich nicht einmal, ob ihnen in der prallen Sonne heiß war. Insofern erweitern Objekte das Bild mündlicher Überlieferungen.

Welche Geschichte erzählen die Flüchtlingsboote?
Zum Beispiel, dass es sich heute um völlig andere Bootstypen handelt als die, die bis Juli 2023 hauptsächlich auf die Insel gelangt sind. In den vergangenen Wochen haben wir 23 Boote dokumentiert, davon waren 17 aus Metall. Genauer gesagt: Sie bestehen aus Schrott. Das ist sehr überraschend, weil Geflüchtete bis vor kurzem in der Regel Holz- oder Schlauchboote nutzten.
Was meinen Sie mit "Schrott"?
Die Boote sind aus Schrottteilen zusammengeschweißt. Wir können die einzelnen Bestandteile nicht genau identifizieren, weil sie komplett verrostet sind. Aber sie haben auffällige Gemeinsamkeiten: Sie sind exakt 6,5 Meter oder exakt 8 Meter lang, immer auf den Millimeter genau akkurat gefertigt, die Bordwände sind immer einen Millimeter dick, das Heck zwei Millimeter. Die meisten kommen verbogen und eingedrückt an. Wenn man einmal so einen wackeligen, instabilen Kahn besteigt, weiß man, dass diese Dinger nur für eine einmalige Fahrt gebaut wurden. Es sind "Einmal-Boote", die alle aus Tunesien stammen. Irgendjemand schweißt dort seit einigen Wochen im Akkord Metallboote zusammen. Das grenzt an Massenfertigung.

Woher wissen Sie, dass die Boote aus Tunesien kommen?
Wenn die Geflüchteten hier anlanden, lassen sie jede Menge Dinge zurück, zum Beispiel Lebensmittelverpackungen und leere Wasserflaschen. Anhand der Aufschriften lässt sich rekonstruieren, dass die Menschen in Tunesien gestartet sind. Dadurch wissen wir auch, welche Art von Verpflegung sie für die Überfahrt mitgenommen haben und wie viel Wasser. Wir dokumentieren alles, was die Personen in den Booten und am Strand zurücklassen.
Und was essen die Menschen unterwegs?
Wir haben Verpackungen von Schokokeksen, Bonbons und Muffins gefunden, Sardinen- und Fleischkonserven, einen Beutel mit Brotkrumen, angeschimmeltes Obst, aber auch eine leere Packung Nudeln. Ein merkwürdiger Fund, aber manche Kinder essen gerne ungekochte Nudeln. Gut möglich also, dass Eltern die Packung für ihren Nachwuchs mitgenommen haben. Eine Überfahrt von der Küste Tunesiens nach Lampedusa dauert in der Regel drei Tage.

Was haben Sie noch auf den Booten gefunden?
Abgetragene Socken und andere Kleidungsstücke, kaputte Rucksäcke, selbstgebastelte wasserdichte Handyhüllen aus Plastikfolie und vor allem Luftpumpen und Schläuche von Autoreifen. Offenbar werden die Schläuche als Rettungswestenersatz genutzt und jedem Passagier ausgehändigt. Anhand der Schläuche versuchen wir, die Zahl der Geflüchteten pro Boot ungefähr zu rekonstruieren.
Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Da hier aber überall Schläuche im Wasser herumschwimmen, ist die Zuordnung zu einzelnen Booten nicht ganz einfach. Bislang konnten wir auf einem 6,5 Meter langen Boot 35 Passagiere ermitteln. Das bedeutet: Auf diesen Booten ist praktisch jeder Zentimeter belegt. Manchmal gibt es eine 15 Zentimeter breite und 61 Zentimeter lange Bank am Heck, wo auch der Motor angebracht ist. Maximal zwei Personen können dort sitzen.
Also hocken sich die meisten Menschen auf den Boden?
Teilweise. Das Problem ist, dass die Boote überfüllt sind und immer wieder Meerwasser hineinschwappt. Wir haben zahlreiche aufgeschnittene PET-Flaschen gefunden, die offensichtlich genutzt wurden, um Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Trotzdem schwimmt in den Kähnen, die auf Lampedusa ankommen, immer eine Pfütze, eine Pampe aus Meerwasser, Rost und Benzin. Die genaue chemische Zusammensetzung kennen wir noch nicht. Jedenfalls weisen viele Geflüchtete bei ihrer Ankunft Verätzungen an den Füßen auf. Während der Überfahrt können sich die Menschen höchstens auf ihre Rucksäcke hocken, aber die meisten lehnen sich wohl an die Bordwände oder die Stabilisierungsstreben, die das Boot zusammenhalten.
Gegenstände von geflüchteten Personen zu bergen, ist sicherlich auch eine mentale Herausforderung. Wie verarbeiten Sie das emotional?
Obwohl wir hier wissenschaftlich arbeiten, überkommen uns manchmal die Gefühle. Als ich am Strand winzige Kinderschuhe und eine Pinguin-Bettdecke gefunden und daran gedacht habe, wie dieses Kleinkind die Überfahrt erlebt haben muss und wie die Eltern es wohl umsorgt haben, bin ich in Tränen ausgebrochen. Was mich aber besonders mitnimmt, ist die Tatsache, dass die meisten Menschen, die hier mit großen Hoffnungen ankommen, nie eine Chance für einen Neustart in Europa bekommen werden. Wir können nichts weiter tun, als die Objekte der Geflüchteten einzusammeln und so ihre Geschichte festzuhalten.