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Archäologie Bilder für die Götter: Eine Expedition zur Sixtinischen Kapelle von Amazonien

An Tafelbergen Kolumbiens stoßen Forschende auf monumentale Felszeichnungen. Die Fresken scheinen Jahrtausende alt zu sein: Sie zeigen den "Urwald" in ganz neuem Licht
Expeditionsteam vor den Felszeichnungen
Eine gemalte Bibliothek: Víctor Caycedo (M.) erklärt: Allein im "Panel Principal" berichten Hunderte Piktogramme vom Leben und Glauben der frühen Regenwaldsiedler
© Angela Ponce für GEO

Víctor Caycedo führt uns zu seinen Geistern: Ihr Wald wirkt sonderbar still, wie gelähmt von der Hitze. Zwischen den mächtigen Attalea-Palmen, den rot-gelben Blüten der Helikonien und den schwebenden Wurzeln der Würgefeigen steht die Luft fast wie eine Mauer. 

Eigentlich dürfte es nicht mehr weit sein zum Cerro Azul, unserem Ziel: einem zerklüfteten Tafelberg, der sich rund 350 Meter hoch über die Ebene erhebt. Aber wir können den Gipfel nicht sehen. Zu dicht umschließt uns das Labyrinth aus Lianen und moosbeladenen Ästen. Wir kommen nur langsam voran, schwitzen unter der Last der Rucksäcke mit den wissenschaftlichen Messgeräten und Kameras. Verfluchen die Bremsen und Bienenschwärme. Mühen uns, Schritt zu halten mit Víctor Caycedo. 

Der 79-Jährige aus dem nahegelegenen Dorf führt das Team aus fünf Forscherinnen und Forschern über die Felsstufen durch das Dickicht. Er keucht nicht, er schwitzt nicht. Er gehöre zum Volk der Desana, sagt er, als genüge das zur Erklärung, warum sein Alter nur in den Furchen seines Gesichts zu erkennen ist. Seine Vorfahren haben über viele Generationen im Wald gelebt.

Caycedo erzählt beim Gehen mit kratziger Stimme vom Jaguar, der vor Kurzem hier auf dem Weg gesichtet wurde. Und er schwärmt von den Stelzwurzelpalmen, aus deren festem Holz er sich Werkzeuge schnitze. Bis sich der Wald plötzlich öffnet wie ein gewaltiger grüner Vorhang und selbst Caycedo verstummt.

Das Expedititonsteam fährt im Boot über einen Fluss
Folge der Schlange! Einige Felsmalereien am Rio Guayabero sind nur per Kanu erreichbar: Der Fluss ist die Lebensader der Gegend. In Bildern erscheint er als kosmische Anakonda, die einst die Welt erschuf
© Angela Ponce für GEO

Vor uns ragt eine Steilwand in den Himmel, gut zehn Meter breit, in Wellen geschwungen mindestens ebenso hoch. Diese Wand ist ein Kunstwerk: Zeichnungen in roter Farbe zieren den Fels, Hunderte müssen es sein. Szenen des Waldes. Kaimane und Hirsche, Fledermäuse und Adler ziehen zwischen gepunkteten Kreisen, Linien- und Zickzackmustern hindurch. Reihen aus Tänzern schlängeln sich um Handabdrücke. Fischer mit Speeren sehen aus, als stürzten sie sich von Mondsicheln. Schimären – Mischwesen mit den Köpfen von Kriegern, den Füßen von Vögeln – sind auszumachen, gebannt bei der Jagd.

Es sind Bilder von so ergreifend er Kraft, dass wir uns für Minuten still mit den Blicken in ihrer Fülle verlieren. Ich setze den Rucksack ab, hocke mich auf die Felsen. Jetzt verstehe ich, warum die Forschenden dieses Gebiet die "Sixtinische Kapelle von Amazonien" nennen. Die Bilder erinnern tatsächlich an Kirchenfresken der Renaissance. 

Was haben sie nur zu bedeuten? Víctor Caycedo sagt: "Es sind Portale zur Welt der Geister".