Zunächst fühlt man sich unwohl, leicht reizbar und kann mitunter den Grund dafür nicht ausmachen. Zunehmend lässt die Konzentration nach, allmählich breitet sich ein dumpfes Unbehagen, eine unangenehme Leere im Bauchraum aus. Ganz gleich, worauf wir unsere Gedanken richten wollen, sie kreisen doch mehr und mehr um Nahrung. Bald schon erfüllt uns ein nagendes Gefühl: Hunger. Dieser Zustand ist etwas zutiefst Vertrautes, mehrmals am Tag überkommt er uns. Und in der Regel versuchen wir, ihm möglichst schnell ein Ende zu bereiten. Denn Hunger ist ein Warnsignal unseres Organismus: Die Kraftreserven des Körpers drohen zur Neige zu gehen, die Organe - allen voran das Gehirn - brauchen Energie, um weiterhin optimal arbeiten zu können.
Deshalb wird der Hunger schon innerhalb kurzer Zeit immer qualvoller, wenn es uns nicht gelingt, etwas Essbares aufzutreiben. Dann entfaltet er eine peinigende Wucht. Machtvoll bäumt sich der Körper gegen den Mangel an Nahrung auf. Der Hungernde wird immer unruhiger, reagiert zunehmend aggressiv und kämpferisch, um das übermächtige Verlangen nach Nahrung zu stillen. Dabei beginnt sich der Körper gleichsam selbst zu verzehren: Reserven in Fettgeweben werden aufgebraucht, Muskelzellen erschlaffen, Leber, Herz und Nieren schrumpfen. Bei einem zuvor gesunden Menschen versagt nach zwei bis drei Monaten ohne Nährstoffe das Versorgungssystem der Körperzellen. Dann brechen die Stoffkreisläufe endgültig zusammen. Die Organe setzen aus, zumeist erst das Herz. Der Mensch stirbt.
Essen ist deshalb, so trivial es klingt, nicht nur ein Genuss, sondern ein fundamentales Grundbedürfnis des Menschen. Sobald Hunger aufkommt, erscheinen andere Wünsche weniger wichtig. Wir müssen uns erst ernähren, ehe wir anderen Bedürfnissen nachkommen können.
Doch wenn uns der Hunger so zusetzt - warum essen wir dann nicht unaufhörlich? Warum signalisiert der Körper, wenn er keine Nahrung mehr benötigt? Was führt dazu, dass wir uns satt fühlen? Eigentlich könnte man meinen, die Antworten darauf seien längst bekannt, Hunger und Sättigung bestens verstanden. Doch nach wie vor geben die beiden gegensätzlichen Gefühle Wissenschaftlern Rätsel auf.
Noch immer erforschen sie, wie der Hunger überhaupt entsteht. Welche biochemischen Mechanismen uns Sättigung spüren lassen. Sie versuchen zu ergründen, warum manche Menschen dem Hunger eine Zeit lang ohne Schwierigkeiten widerstehen können - andere dagegen schon dem zartesten Appetit nachgeben müssen. Und vermutlich sind längst noch nicht alle Faktoren aufgedeckt, die unsere Lust aufs Essen steuern.

Fest steht: Unser Körper misst ständig die Menge an Nahrung, die wir hinunterschlucken und die in den Magen gelangt. Denn in dessen muskulöser Wand verbergen sich zahlreiche winzige Detektoren, die registrieren, wie stark sich das flexible Organ dehnt, wie gefüllt es also ist.
Die Messfühler senden Signale an eine unbewusst arbeitende Region in unserem Gehirn, den Hypothalamus. Dieses etwa daumennagelgroße Areal, das unter anderem den Wasserhaushalt und die Körpertemperatur reguliert, ist gewissermaßen der oberste Wächter über die Empfindungen Hunger und Sättigung. Empfängt der Hypothalamus Dehnungssignale aus dem Magen, füllt der sich also, werden im Hirn nach einer gewissen Zeit bestimmte Botenstoffe ausgeschüttet, die das Gefühl der Sättigung hervorrufen, darunter die Hormone Noradrenalin, Serotonin und Dopamin.
Wissenschaftler haben herausgefunden: Die Sensoren in der Magenwand senden erstmals Sättigungssignale an den Hypothalamus, wenn Speisen mit einem Volumen von 300 bis 400 Kubikzentimetern das Verdauungsorgan füllen - das entspricht einer kleinen bis mittelgroßen Portion Nudeln.
Zwar dehnen Getränke den Magen ebenfalls, auch sie können durchaus ein Völlegefühl hervorrufen, doch meist nur kurzfristig: Flüssigkeit entlässt der Magen rasch in den Darm, binnen zehn Minuten gut 250 Milliliter. Daher tragen flüssige Kalorien kaum zu längerer Sättigung bei.
Welche wichtige Rolle der Magen bei der Frage spielt, ob wir nach Essen verlangen oder nicht, offenbart sich bei Menschen, denen das Organ aufgrund schwerer Krankheit operativ entfernt wurde: Sie werden nicht mehr satt - haben aber auch kaum eine Empfindung mehr für Hunger.
Das liegt unter anderem vermutlich daran, dass bestimmte Zellen in der Magenschleimhaut das Hormon Ghrelin produzieren: einen biochemischen Botenstoff, der appetitsteigernd wirkt - damit wir nicht vergessen, unseren Körper zu stärken – und dessen Produktion über den Tag hinweg schwankt.

Viele Menschen können ihren Appetit kaum zügeln
So fällt rund 60 bis 90 Minuten nach dem Verzehr einer Mahlzeit die Ghrelin-Menge auf ein Minimum, in der Regel haben wir keinen Hunger mehr. Dann kurbeln die Schleimhautzellen die Hormonproduktion langsam wieder an, allmählich bekommen wir erneut Appetit.
Der Magen registriert zwar lediglich, wie viel Nahrung wir uns einverleibt haben – er ist nicht in der Lage, die spezifische Zusammensetzung einer Speise zu erkennen. Doch die Ingredienzien des Essens bleiben dem Organismus nicht verborgen: ob wir beispielsweise viel Zucker, Eiweiß oder Fett zu uns genommen haben, ob eine Mahlzeit reich oder arm an Energie ist. Denn sobald die Nährstoffe die Darmwand passieren und in den Blutstrom gelangen, treffen sie an verschiedenen Stellen im Körper - etwa in der Leber - auf weitere Messfühler, die auf komplexe Weise die Menge der jeweiligen im Blut zirkulierenden Substanzen detektieren.

Wahrscheinlich geben sie anschließend dem Hirn Auskunft darüber, ob unser Körper einen bestimmten Stoff besonders dringend benötigt. So erklären sich manche Forscher, weshalb uns gelegentlich ein "spezifischer Hunger" überkommt, etwa das Verlangen nach einem herzhaften Steak, einem Glas Milch, einer Banane.
Manche Menschen wachen mitten in der Nacht auf, eine Hungerattacke lenkt sie zum Kühlschrank, und fast wie ferngesteuert greifen sie zu einer Schokolade oder anderen Süßigkeiten. Eine mögliche Erklärung: Das Gehirn ist unterversorgt mit der Zuckerart Glukose und schüttet daraufhin das Hormon Oxerin aus. Der Botenstoff lässt den Betroffenen hellwach werden, unruhig - und schickt ihn auf die Suche nach Süßem.
Bei einigen Menschen, etwa manchen Diabetikern, ist das Gehirn nicht mehr in der Lage, einen genügend großen Anteil an Glukose aus den eigenen Körperreserven - etwa einem wichtigen Energiespeicher in der Leber - zu beziehen. Stattdessen deckt das Denkorgan seinen Energiehunger zunehmend durch Glukose-Moleküle, die direkt aus der Nahrung stammen. Die Folge: Die Betroffenen leiden unter Heißhungerattacken, da ihr Gehirn stets nach mehr verlangt. Die überschüssigen Kalorien legt der Körper in Fettdepots an.

Wissenschaftler haben mittlerweile eine Vielzahl von Hormonen ausfindig gemacht, die in die Regulation von Hunger und Sättigung eingreifen. Doch noch immer verstehen sie nicht genau, wie die verschiedenen Stoffe zusammenspielen, sich gegenseitig verstärken oder ihre Wirkung gegenseitig aufheben. Denn die betreffenden Regelkreise sind außerordentlich komplex. Selbst unser Fettgewebe, lange als passives Energiedepot angesehen, ist ein Hormonproduzent, der aktiv in den Stoffwechsel eingreift und unsere Lust auf Essen beeinflusst. Eines der bedeutendsten Hormone, das die Fettzellen freisetzen, heißt Leptin (von gr. leptós, dünn). Das Hormon zeigt den Füllstand der Fettzellen an. Ein hoher Leptinspiegel im Blut - etwa nach den Weihnachtsfeiertagen – signalisiert: Die Reserven sind voll.
Leptin stimuliert den Hypothalamus unter anderem zur Freisetzung von Stoffen, die den Appetit unterdrücken. Biologisch betrachtet ist der Einfluss dieses Hormons sehr sinnvoll, denn es trägt zum natürlichen Kontrollsystem für das Körpergewicht bei: Sobald der Organismus genügend Fettdepots angelegt hat, wird der Appetit eine Zeit lang abgeschwächt. So bleibt auf Dauer die Körpermasse mehr oder minder konstant.
Doch die in Millionen Jahren gereifte Biologie des Menschen ist nicht vorbereitet auf Zeiten des Überflusses, wie sie heutzutage in vielen Ländern herrschen: So scheint die Wirkung von Leptin gerade bei fettleibigen Menschen offenbar völlig zu versagen; überraschenderweise messen Wissenschaftler bei den meisten Adipösen hohe Konzentrationen von Leptin im Blut - eine Hunger stillende Wirkung entfaltet das Hormon aber nicht.
Ungebremster Appetit kann die vielfältigsten Ursachen haben
Ohnehin kann ungezügelter Appetit vielfältige Ursachen haben. Denn ob wir mehr essen, als uns guttut, ob wir eine Mahlzeit genießen oder rasch nur eine Kleinigkeit hinunterschlingen, hängt keineswegs allein von Magendehnung, Blutzuckerspiegel, Fettdepots und Hormonen ab.
Mindestens ebenso machtvoll wirken sich unsere psychische Verfassung, Gedanken und Gefühle auf unser Essverhalten aus, ebenso das soziale Umfeld, die Situation, in der wir uns befinden, sowie die Präsentation der Speisen.
Unsere Lust auf Essen wächst in der Gesellschaft von Freunden und Familie; Hunger und Sättigung werden manipuliert durch Packungsgrößen, leuchtende Lebensmittelfarben, betörende Aromen – und nicht zuletzt dadurch, wie vielfältig die Speisen auf unserem Teller sind.
Die Auswahl beeinflusst entscheidend, wann wir uns satt fühlen. Je eintöniger eine Mahlzeit, desto rascher schwindet der Appetit. Ernährungswissenschaftler sprechen von der „sensory specific satiety“, der sinnspezifischen Sättigung. Jeder kennt das Phänomen: Der erste Bissen schmeckt am besten, der zweite schon etwas weniger interessant, und nach einiger Zeit empfinden wir ein Gericht – sofern es nicht genügend geschmackliche Raffinesse bietet – zunehmend als fade, langweilig. Unser Appetit verlangt nach Abwechslung, nach Neuem.
Womöglich stellt der Organismus damit sicher, dass wir uns besonders vielfältig ernähren. Und so von allen notwendigen Nährstoffen stets genug verzehren.
Der Effekt führt nicht selten dazu, dass Menschen weit über den gesunden Hunger hinaus schlemmen. Nach einer üppigen Hauptmahlzeit zum Beispiel fühlt man sich in der Regel ausreichend gesättigt. Doch wenn ein schmackhaftes Dessert in Aussicht steht, bekommen die meisten Menschen wieder Appetit. Der simple Grund: Der Nachtisch verspricht meist eine andere geschmackliche Note als der Hauptgang, bietet neuen Genuss.
Auch die Farbenvielfalt kann unsere Esslust anstacheln. So zeigen Untersuchungen, dass Menschen deutlich mehr Bonbons essen, wenn die Naschereien unterschiedlich eingefärbt sind.

Offenbar spielt die Optik noch in anderer Hinsicht eine entscheidende Rolle. In einem Experiment konnten Versuchsteilnehmer so viele Chickenwings vertilgen, wie sie wollten. Bei einer Gruppe räumten Kellnerinnen stets die anfallenden Geflügelknochen vom Tisch. Bei der anderen Gruppe stapelten sich die Reste dagegen auf dem dafür vorgesehenen Teller.
Jene Versuchsteilnehmer, die nicht sahen, wie viele Hähnchenteile sie bereits verzehrt hatten, aßen rund ein Drittel mehr als diejenigen, auf deren Tellern sich die Knochen sammelten.
Unser Appetit lässt sich also täuschen, übertölpeln. Auch die Packungsgröße hat einen gewaltigen Einfluss. In einem Versuch sollten Probanden einen Videofilm anschauen und anschließend beurteilen. Während der Vorführung wurde ihnen jeweils eine Tüte voller Schokolinsen angeboten. Manche Teilnehmer erhielten 250 Gramm schwere, die anderen 500 Gramm schwere Packungen. Das Ergebnis war frappierend: Die Versuchsteilnehmer mit der kleineren Tüte verzehrten durchschnittlich 71 Schokolinsen, die mit der größeren 137, also fast die doppelte Menge.
Forscher führen den Effekt darauf zurück, dass Packungen – ganz gleich, wie groß sie sind – eine Art Norm suggerieren, an der wir uns unbewusst orientieren. Je größer die Portion, desto eher scheint uns angemessen, mehr zu essen, desto später fühlen wir uns gesättigt.
Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Von früh auf sind wir daran gewöhnt, möglichst alles aufzuessen. Im Mittel, so zeigen Erhebungen, verzehren Menschen 92 Prozent der Speisen, die sie auf ihren Teller gelegt haben.
Einen überaus wichtigen Einfluss auf Hunger und Sättigung nimmt zudem unsere seelische Verfassung, unsere Gemütslage. Die Wirkung psychischer Faktoren kann sich individuell ganz unterschiedlich bemerkbar machen.
Wer zum Beispiel euphorisch oder hochkonzentriert ist, den plagt meist kein Hunger. Langeweile führt bei vielen Menschen dazu, dass sie mehr essen. Angst schlägt dem einen auf den Magen, sein Appetit schwindet, ein anderer beruhigt sich, indem er gegen die Furcht anisst.
Ähnliches zeigt sich bei Menschen, die an einer Depression erkranken. Viele von ihnen haben deutlich weniger Appetit als zuvor, sie nehmen ab. Andere Betroffene verspüren dagegen geradezu übermäßigen Hunger und setzen mit der Zeit „Kummerspeck“ an.
Der renommierte Hirnforscher Achim Peters von der Universität Lübeck sieht im Dauerstress, unter dem viele Menschen leiden, sogar eine Hauptursache für die wachsende Zahl adipöser Menschen.
Die Erklärung des Wissenschaftlers: Bei Stress steigt der Energiebedarf des Gehirns mitunter stark an. Um den Hunger zu stillen, schüttet das Denkorgan Stresshormone aus. Die Botenstoffe veranlassen den Organismus, blitzschnell die körpereigenen Energiereserven zu mobilisieren, die über die Blutbahn rasch ins Gehirn gelangen.
Das ist ein im Grunde genommen höchst sinnvoller Mechanismus, denn er sorgt dafür, dass unserem Denkorgan im Notfall reichlich Energie zur Verfügung steht – sodass wir in einer gefährlichen Situation die nötige geistige Kapazität besitzen, ad hoc die richtige Entscheidung zu treffen.
Heutzutage aber leiden viele Menschen unter Dauerstress, der über Wochen, Monate, mitunter über Jahre anhält. Der stetige psychische Druck verändert das hormonelle Gefüge nachhaltig und lässt die Betroffenen fortwährend Hunger spüren. Die Übergewichtsepidemie ist demnach, so Peters, gleichsam eine Stressepidemie.
Der Effekt psychosozialer Faktoren zeigte sich in einer Langzeitstudie, die Forscher der Universität von Chicago mit Müttern aus Problemvierteln durchführten (Armut und Existenzsorgen sind Hauptauslöser für Dauerstress): Nach dem Zufallsprinzip teilten die Forscher die Frauen in zwei Gruppen ein. Einer Gruppe ermöglichten sie einen Umzug in ein gehobeneres Wohnviertel, die Probandinnen hatten damit gute Chancen, eine bessere Arbeit zu finden. Die anderen Frauen blieben weiterhin in ärmlichen Verhältnissen wohnen.
Nach 15 Jahren ging es jenen Frauen, die aufgestiegen waren, nicht nur psychisch besser, sie waren auch deutlich schlanker als diejenigen, bei denen sich die Verhältnisse nicht geändert hatten.
So vielfältig die Einflussgrößen sind, die unsere Lust aufs Speisen prägen, die manche rascher, andere erst nach üppigem Mahl satt werden lassen: Bleibt das Essen gänzlich aus, verändert der Hunger den Menschen grundlegend.
Schon nach einer ausgelassenen Mahlzeit werden wir nervös und unruhig. Wissenschaftler nennen das Phänomen „starvation induced hyperactivity“ (hungerinduzierte Überaktivität). Mit jeder weiteren fehlenden Mahlzeit trachten wir immer energischer, immer aggressiver danach, endlich etwas zu essen.
Nicht auszudenken, was geschähe, wenn die Versorgungslage eines Staates wie Deutschland zusammenbräche, etwa im Fall einer Pandemie: Schnell würde der Kampf um die verbliebenen Lebensmittel beginnen und Chaos herrschen.
Wissenschaftler der Universität Edinburgh haben berechnet, dass in einer modernen Industrienation – wo die Lagerhaltung zunehmend durch kurzfristige Lebensmittellieferungen abgelöst wird – die Versorgungslage binnen drei Tagen kollabieren würde. Anarchie bräche aus.
So unwahrscheinlich ein derartiges Szenario auch erscheinen mag – die Bundesregierung hat vorgesorgt. An mehreren geheimen Orten lagern in riesigen Hallen rund 800 000 Tonnen Getreide sowie fast 130 000 Tonnen Reis und Hülsenfrüchte. Diese zivile Notfallreserve soll helfen, mögliche Engpässe zu überbrücken. Deutschland lässt sich die Krisenmahlzeiten Jahr für Jahr rund 17 Millionen Euro kosten.
Um sicherzugehen, dass nicht eines Tages der Hunger regiert.