GEOkompakt: Frau Böttger, Positives Denken gilt als wichtiger Faktor für ein glückliches Leben. Können wir tatsächlich allein kraft unseres Geistes unsere Zufriedenheit verbessern?
Muriel Böttger: Die Forschung dazu ist noch vergleichsweise jung. Lange mangelte es an wissenschaftlichen Studien, um diese Frage seriös zu beantworten. Doch seit einigen Jahren untersuchen Psychologen mittels umfangreicher Erhebungen, welche Wirksamkeit eine positive Lebenshaltung hat. Danach zeigt sich: Positives Denken allein ist kein Garant für ein erfülltes Leben, kein Allheilmittel. Doch zugleich bietet es eine ungemein große Chance auf mehr Freude und Zuversicht.
Wie funktioniert Positives Denken? Sollen wir uns das Leben schöner reden, als es ist?
Wer positiv denkt, sieht die Welt und sich tatsächlich stets etwas vorteilhafter. Vor allem die Fähigkeit, die eigenen Potenziale sehr positiv einzuschätzen und in Niederlagen vorübergehende Ereignisse zu sehen, erhöht nachweislich das psychische Wohlbefinden. Doch niemandem, der eine ernsthafte Krise durchlebt oder als notorischer Miesepeter durchs Leben geht, ist damit geholfen, wenn man ihm sagt: „Sieh’s doch mal positiv!“. Es geht also nicht darum, alle negativen Gedanken und Gefühle, alle Schmerzen, Sorgen und Ängste aus dem Alltag zu verbannen. Ziel ist es vielmehr, den Blick zu weiten, seine Lage differenziert zu betrachten. Etwa zu würdigen, was man schon alles geschafft hat, anstatt sich allein darauf zu konzentrieren, was man noch erreichen muss. Bei vielen ist der Fokus extrem auf das Negative verengt, sie laufen gewissermaßen mit Scheuklappen durchs Leben, nehmen vor allem das Belastende wahr.
Und sehen sich als Opfer des Schicksals?
Wir alle fühlen uns dann und wann als Opfer, geben anderen die Schuld dafür, dass es uns schlecht geht – etwa dem Chef, weil er uns die Arbeit erschwert. Sich gelegentlich in die Opferrolle zu begeben, ist nicht weiter problematisch, kurzzeitig hat es sogar etwas Entlastendes: Schließlich kann ich den Schwarzen Peter von mir weisen, mich ausruhen. Doch wer in diesem Zustand verharrt, leidet. Ich versuche meinen Klienten daher zu vermitteln, wie wichtig es ist, immer wieder Kontrolle über die eigenen Handlungsspielräume zurückzuerlangen. Sich zu fragen: Was ist es, das ich tun kann? Wo liegt mein Einfluss? Wie kann ich intervenieren, damit sich meine Situation verbessert? Denn letztlich gilt es zu erkennen: Zuvorderst bin ich es, der Verantwortung für mein Leben trägt. Und ich bin imstande, Veränderungen zu bewirken.
Wer unglücklich ist, hat sich nicht genügend angestrengt?
Nein. Der Weg besteht nicht darin, sich jeden Tag unter Druck zu setzen und zu stressen, ein zuversichtlicherer Mensch zu werden. Darin liegt sogar eine Gefahr: Manche Motivationstrainer etwa proklamieren, man müsse sich nur oft und vehement genug einreden, man sei erfolgreich, schön, talentiert, zielstrebig – dann könne man alles im Leben erreichen. Diese Form der Turbo-Zuversicht kann Menschen ins Unglück stürzen, denn die Fallhöhe ist ungemein hoch. Wenn sich die erhofften Folgen der positiven Weltsicht nicht bald einstellen, fühlen sich Betroffene in ihrer Überzeugung, ein Taugenichts zu sein, nur bestätigt. Man kann und sollte sich nicht zum Optimismus zwingen. Aber es ist möglich, Interpretationsspielräume im Denken zu nutzen, um anders auf Dinge zu schauen. Zum Beispiel indem man seinen Blick für die eigenen Möglichkeiten schärft, für das Machbare. Darin besteht ein zentrales Anliegen der Positiven Psychologie: unser Selbstvertrauen zu stärken.
Neigen Schwarzseher zum Dramatisieren?
Auf etliche trifft das zu. Wer auf das Negative, Destruktive fokussiert, überhöht es oft auch. Doch ebenso ungut ist es, das Positive, Euphorische zu idealisieren. Es geht immer um eine Balance, darum, das ganze Bild wahrzunehmen. Das Leben besteht nun mal aus Höhen und Tiefen, mal sind wir besser gestimmt, mal schlechter. Wichtig ist: Alle Gefühle haben ihre Berechtigung. Nicht nur die Freude, die Überraschung, die Liebe. Auch der Ärger, die Verachtung, der Zweifel. Ich ermutige meine Klienten daher, die dunkleren Emotionen nicht wegzusperren. Sondern sie im Grundsatz zu bejahen. Und sich bewusst zu machen: Wo kommen die eigentlich her? Warum bin ich häufig so genervt von mir oder von anderen? Was ist das Gute an der Emotion, was lehrt sie mich?
Inwieweit ist das hilfreich?
Nicht wenige Menschen sind ihren Gefühlen ausgeliefert, haben kaum Distanz zu sich selber. Und handeln daher oft impulsiv, unangemessen, voreilig – mit der Folge, dass sie ihrem Glück bisweilen im Weg stehen. Ein Beispiel: Ein Kollege schreibt eine respektlose E-Mail. Wut steigt auf, am liebsten würde man sofort zurückschießen. Eine Dauerfehde wäre das Resultat. Wenn wir uns mehr mit unseren negativen Emotionen beschäftigen, gelingt es uns jedoch, einen gewissen Abstand zu ihnen einzunehmen. Zwischen Reiz und Reaktion lässt sich dann ein Gedanke aus der Beobachterperspektive schieben, etwa: Ach, dieses Wutgefühl kenne ich bereits, wie interessant, dass es mich ausgerechnet jetzt wieder packt, glücklicherweise geht es vorüber. Besser, ich lasse die Situation nicht eskalieren.
Ich soll meinen Ärger also unterdrücken?
Keineswegs! Aber Sie geben dem Ärger nicht die Macht, ihr Handeln zu bestimmen, behalten die Kontrolle. Mit dieser leicht distanzierten Haltung zu sich selber lassen sich die kleinen Aufreger besser aushalten – wie auch längere Phasen, in denen es einem schlecht geht. In der Positiven Psychologie spricht man von Resilienz: Damit ist unsere psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber den Herausforderungen des Lebens gemeint. Resiliente Menschen wissen sehr gut, dass Tiefs etwas Normales sind – und was ihnen Kraft gibt, um wieder auf die Beine zu kommen.
Kann Humor eine Stütze sein?
Absolut. Humor ist eine Ressource, die unsere psychischen Kräfte ungemein stärkt. Insbesondere dann, wenn ich auch mal über mich selber lachen kann, darüber vielleicht, dass ich bei einem Vortrag meinen Text vergessen habe oder zum Schokokuchen gegriffen habe, obwohl ich mich gesund ernähren wollte. Der Effekt: In solchen Situationen voller Stress oder Ärger verfliegt die Anspannung im Nu. Und ich bin viel flexibler, Lösungen zu finden. Humor ist ja per se eine kreative Eigenschaft, und wer das Dasein mit einem Augenzwinkern betrachtet, tut sich leichter, konstruktiv mit problematischen Situationen umzugehen, positiver in die Zukunft zu blicken. Ein guter Rat lautet daher: Hören Sie auf damit, so streng zu sich selber zu sein!
Wie gelingt das?
Viele von uns neigen dazu, ihr größter Kritiker zu sein. Da flüstert im Hintergrund häufig diese Stimme, die mäkelt und verdammt, die abwertet, den sozialen Vergleich mit anderen sucht – und dann bemängelt, dass wir weniger leistungsfähig, interessant, liebenswert, erfolgreich sind. Auch hier halte ich meine Klienten dazu an, in die Beobachterrolle zu gehen, in eine Art inneren Dialog. Nehmen wir an, jemand rügt sich stundenlang dafür, einen Zug verpasst zu haben. Er sollte sich fragen: Würde ich in einer vergleichbaren Situation ebenso hart zu meinem besten Freund sein? Vermutlich würde er ihm nie an den Kopf werfen: „Was bist du dumm, den Zug verpasst zu haben!“ Es gibt keinen Grund, mit sich selber härter ins Gericht zu gehen als mit anderen. Eine positive Weltsicht anzustreben heißt eben nicht, alles perfekt machen zu wollen, sondern: einen besseren Umgang mit den Ecken und Kanten seiner selbst zu finden. Idealerweise reift so die Erkenntnis: Auch ich bin nur ein Mensch, auch ich mache gelegentlich Fehler. Ich kann gelassen damit umgehen.
Wie lange braucht es, um zum Optimisten zu werden?
Das ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Was ich sagen kann: Ausdauer zahlt sich aus. Ich habe mal eine Frau begleitet, die durch eine schwere Erkrankung in eine gravierende Lebenskrise gerutscht war. Ihr Mann trennte sich von ihr, finanziell stand sie vor dem Nichts. Plötzlich war sie alleinerziehend, schwer krank und musste dennoch weitermachen. Ganz klar: In einer derartigen Lage ist einem nicht mit den Worten „Alles halb so wild!“ geholfen. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis meine Klientin diese Krise vollends überwinden konnte. Doch im Laufe der Zeit blühte sie regelrecht auf, entwickelte eine gänzlich neue Einstellung, erkannte: Das Leben hält mehr für mich bereit, als Traurigkeit und Verdruss. Ihr Selbstvertrauen und ihre Lebensfreude waren nach dem Tief sogar größer als zuvor.
Was hat ihrer Klientin Mut gegeben?
In solchen Situationen empfiehlt sich ein Weg der kleinen Schritte. Bereits einfache Übungen können dazu beitragen, in einen anderen Modus zu gelangen, etwa durch Meditation, Tagebuchführen, gemeinsames Reflektieren. Zuweilen geht es auch schlicht darum, zu erspüren: Was ist heute wichtig? Welches Bedürfnis ist gerade akut, und wie können wir dem begegnen? Welche Emotion will momentan gelebt werden? Tränen etwa dürfen und sollen fließen, dadurch löst sich auch manch körperliche Anspannung. Dann habe ich mit der Frau – nachdem es ihr gesundheitlich wieder besser ging – auf zunächst unüberwindbar erscheinende Hürden geschaut, positive Perspektiven entwickelt: Was brauchst du, um finanziell auf eigenen Beinen zu stehen? Was hindert dich daran, beruflich Tritt zu fassen? Wie sähe eine Zukunft aus, in der deine Ziele erreicht wären? Und ein Bewusstsein dafür geschaffen, dass eine schwierige Lage – mag sie noch so niederschmetternd wirken – immer auch eine wertvolle, bejahende Erfahrung sein kann.
Gehören Rückschläge dazu?
Ja, sicher. Manchmal geht es einen Schritt vorwärts und zwei zurück. Daher ist es so wichtig, dem Glück immer wieder eine Chance zu geben. Sich weiterhin für kleine Erfolgserlebnisse zu öffnen, auf die sich erneut aufbauen lässt. Etwa kleine Rituale zu schaffen, die einem guttun, und sei es ein angenehmes Vollbad am Abend. Man darf solche trivial anmutenden Stellschrauben nicht unterschätzen, denn in erster Linie werden wir nicht nur durch positives Denken zum Optimisten, sondern auch durch positive Erfahrungen. Ermutigende, inspirierende, motivierende Erlebnisse, die fast jeder Tag bereithält – wenn wir nur unsere Wahrnehmung dafür schärfen.
Ein letzter Tipp, wie wir mehr Zuversicht in unseren Alltag bringen können?
Schulen Sie ihre Dankbarkeit! Dankbarkeit ist ein zentraler Bestandteil der Positiven Psychologie. Ich bezeichne sie auch als Ladestation für unser Glück. Denn sie hilft uns, das Gute im Leben zu finden, unseren Fokus auf das Wertvolle zu erweitern. Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, vor allem Negatives, Bedrohliches abzuspeichern und im Zweifel überzubewerten. Doch wer dankbar für die kleinen Augenblicke, Begegnungen, Erkenntnisse im Leben ist, lenkt seine Wahrnehmung aktiv auf das Schöne.
Eine kleine, effektive Übung besteht zum Beispiel darin, abends drei solcher Momente in einem Glücks- oder Dankbarkeitstagebuch festzuhalten. Wer dies nur sieben Tage hintereinander praktiziert, so belegen Studien eindrucksvoll, ist noch sechs Monate später glücklicher als zuvor! Das zeigt: Ein simples Ritual kann dazu beitragen, dass wir zufriedener durchs Leben gehen. Und eine positive Weltsicht zur neuen Gewohnheit wird.