Wall Street, Montag, 2. September 1929, 12.00 Uhr: Im großen Handelssaal der New Yorker Börse ist es vollkommen still. Kein hundertfaches Stimmengewirr hallt wie sonst vom Marmor der Wände wider, kein Aktienhändler eilt über das filzbedeckte Parkett, kein Telefon läutet. Erloschen sind die Leuchtbänder mit den Kursnotierungen.
Alle Ticker stehen still.
Auch die Broad Street, an der das monumentale Eingangsportal der Börse mit seinen sechs korinthischen Säulen liegt, ist menschenleer. Die Kundenräume der Börsenmakler im gesamten Finanzdistrikt sind verwaist, und auch die Schalter der Banken und Investmenthäuser.
Halb New York ist aus der Stadt geflohen. Es ist Labor Day, der Tag der Arbeit, an dem die Menschen jedes Jahr das Ende des Sommers begehen. Eine kurze Atempause im Aktienfieber.
Hunderttausende sind übers Wochenende ans Meer oder aufs Land gefahren, denn eine Hitzewelle liegt über der Ostküste, das Thermometer zeigt 33 Grad Celsius. Der Sommer 1929 scheint einfach nicht zu enden - genauso wie der Boom an der Börse.
Die vergangenen drei Monate haben das ganze Land in ein Hochgefühl versetzt.
Seit fünf Jahren schon steigen die Kurse fast ununterbrochen, zuletzt sind sie regelrecht nach oben geschossen.
Begehrte Papiere wie die Aktien von General Electric oder United Founders haben in dieser Zeit um rund 50 Prozent an Wert hinzugewonnen, Westinghouse, der Stromkonzern, sogar um 90 Prozent.
Das alte Gesetz von Auf- und Abschwung des Marktes scheint außer Kraft gesetzt. Das Land sei in eine "Neue Ära" eingetreten, hat der US-Präsident Calvin Coolidge schon 1927 proklamiert.
In eine Epoche des Wohlstands.
Und ja: Im langen Sommer 1929 ist es ein Kinderspiel, an der Wall Street sein Geld zu vermehren. Nie zuvor in Amerikas Geschichte sind so viele Menschen so schnell reich geworden. Haben sich ohne Arbeit und Anstrengung ein neues Radio, ein Auto oder ein Haus leisten können.
Selbst Vorsichtige spekulieren inzwischen mit ihren Ersparnissen. Etwa anderthalb Millionen US-Bürger, ebenfalls so viele wie nie zuvor, haben in Aktien investiert - Menschen aus allen Schichten: "Der Chauffeur des reichen Mannes lenkt den Wagen mit zurückgelegten Ohren, um Nachrichten über eine bedeutende Kursveränderung von Bethlehem Steel aufzufangen, denn er besitzt selbst 50 Anteile", notiert ein Chronist. "Der Fensterputzer im Büro des Maklers macht eine Pause, um den Ticker zu beobachten, denn er überlegt, ob er die Früchte seiner Arbeit in einige Anteile von Simmons umtauschen soll." Ein Ende des Booms? Undenkbar.
Im Radio verheißt an diesem Montag eine Astrologin, auf deren Rat viele Anleger vertrauen, über das Kursbarometer der Wall Street: "Der Dow-Jones-Index könnte in den Himmel klettern." Dienstag, 3. September 1929, 10 Uhr: An der Wall Street beginnt ein neuer Handelstag. Überall in den USA füllen sich Büros von Börsenmaklern mit Kunden, die auf die Tafeln mit den Kursen starren. Selbst auf Atlantikdampfern haben Makler Handelsbüros mit Funkverbindung zum Festland eröffnet, damit die Passagiere während der Überfahrt nicht aufs Spekulieren verzichten müssen. Als die Börse fünf Stunden später schließt, steht der Dow-Jones-Index, der 30 große Industriewerte zusammenfasst, bei 381,17 Punkten. Ein Rekord.
Zehntausende arbeiten im New Yorker Finanzdistrikt
Seit 137 Jahren, seit in der Stadt am Hudson Aktien gehandelt werden, sind die Kurse noch nie so dynamisch emporgerast.
Die Aktie von U.S. Steel etwa ist in den vergangenen Monaten um fast 70 Prozent gestiegen. Sie kostet jetzt gut 257 Dollar - 104 Dollar mehr als vor einem Jahr.
Anfangs, um 1800, betrieben Händler und Kaufleute den Wertpapiertausch zunächst in Kaffeehäusern und Tavernen an der Wall Street oder einfach auf offener Straße davor; zu erstehen waren neben Aktien von New Yorker Privatbanken und Versicherungsgesellschaften auch Anleihen der US-Regierung und großer Handelsgesellschaften. 1817 dann mieteten einige der Händler einen Saal im Gebäude Wall Street Nr. 40 und trafen sich dort zu festgesetzten Handelsstunden - die Anfänge des New York Stock & Exchange Board.
Rasch wuchs das Geschäft, mehrmals zog die Börse in größere Räume um. 1903 war die Börsengesellschaft so wohlhabend, dass sie sich ein majestätisches Gebäude mit Säulenportal und Marmorfries an der Broad Street, unweit der Ecke zur Wall Street, errichten konnte.
1922 entstand daneben ein 23-stöckiger Wolkenkratzer mit weiteren Büros und Handelsschaltern.
Jetzt, gegen Ende der 1920er Jahre, arbeiten Zehntausende im New Yorker Finanzdistrikt: Aktienmakler, Banker, Telefonisten, Stenotypistinnen, Boten und Laufburschen. Hinzu kommen die vielen "Rinnsteinmakler", die früher direkt auf dem Bürgersteig Aktien verkauften.

Inzwischen haben auch sie einen eigenen Börsensaal, wo sie mit meist hochspekulativen Wertpapieren kleiner und junger Unternehmen handeln.
Längst hat New York London als bedeutendsten Umschlagplatz der internationalen Finanzwelt abgelöst. Und im Land ist genügend Kapital vorhanden: Die US-Regierung hat in den 1920er Jahren jene Staatsanleihen ausgezahlt, die Millionen Amerikaner im Ersten Weltkrieg gezeichnet hatten. Viele Banken erkennen, dass sich hier ein neues Geschäftsfeld eröffnet: Tochterfirmen sollen nun Aktien an die solventen Kleinanleger verkaufen, natürlich gegen Provision.
Niemand ist in diesem Metier so aggressiv - und so erfolgreich - wie Charles E. Mitchell. Der breitschultrige Mann mit der Kommandostimme ist Präsident der National City Bank, des größten privaten Geldhauses der USA.
Der einstige Handlungsreisende hat nie Ökonomie studiert, ist aber ein begnadeter Verkäufer. Von seinem Büro an der Wall Street aus gebietet er über Filialen in mehr als 50 Städten der USA und eine Truppe von 350 Wertpapierverkäufern.
Und so überzeugend kann Mitchell von den Gewinnchancen an der Börse schwärmen, dass ihn viele "Sunshine Charly" nennen.
Er ist das Gesicht des Booms und zugleich dessen treibende Kraft. Aus gutem Grund: Sein Jahreseinkommen - 1928 angeblich 1,3 Millionen Dollar - bemisst sich vor allem am Gewinn seiner Bank.
Selbst seinen italienischen Schuhputzer hat Mitchell davon überzeugt, in Aktien zu investieren: Der 19-jährige Pat Bologna betreibt seinen Stand unweit der Börse. Wenn er die Schuhe der Banker und Börsenmakler auf Hochglanz bringt, fallen stets ein paar Tipps für ihn ab.
Seine Ersparnisse von 5000 Dollar hat Bologna in Aktien von Mitchells National City Bank gesteckt. "Mein Geld verlässt nie diese Straße", erklärt er jedermann stolz. Wenn alles gut geht, wird er bald ein Vermögen besitzen.
Die Wall Street belächelt Roger Babson als Untergangspropheten
Donnerstag, 5. September 1929:
Der Statistiker Roger Babson erklärt auf einer Wirtschaftskonferenz in Boston, das "schöne Wetter" an der Börse könne nicht ewig andauern. Früher oder später würden die Kurse unweigerlich "abrutschen".
Die Folge, so Babson, wäre ein furchtbarer Crash.
Diese Vorhersage verbreitet der Börsenexperte nun schon seit drei Jahren.
An der Wall Street belächelt man ihn als versponnenen Untergangspropheten.
Doch merkwürdig: Diesmal findet seine Warnung Resonanz.
Als die Meldung um 14.00 Uhr über die Fernschreiber kommt, häufen sich mitten in der Hochstimmung die Verkaufsaufträge.
Anleger stoßen in der letzten Handelsstunde zwei Millionen Aktien ab.
Folge: Die Kurse fallen. U.S. Steel schließt bei 246 Dollar - ein Verlust von mehr als elf Dollar in zwei Tagen.
Zwar erholen sich die Notierungen in den folgenden Tagen leicht, doch nicht auf Dauer. Irgendwie hat sich die Stimmung verändert. Gute und schlechte Börsentage wechseln sich fortan ab.
Schwankungen, die gefährlich werden könnten.
Schon länger gibt es zudem Anzeichen einer wirtschaftlichen Flaute in den USA: Seit Juni sinkt die Produktion in den Stahlwerken, Autohändler finden nicht mehr so leicht Käufer, seit einigen Jahren bereits gehen weniger Aufträge bei den Baufirmen ein. Bislang haben diese Zahlen aber kaum jemanden an der Wall Street beeindruckt.
Denn die Menschen wollen sie einfach nicht wahrnehmen. Unbeirrbar scheint der kollektive Glaube an die Macht der positiven Beschwörung - und unstillbar die Gier: Niemand will den nächsten Kursanstieg verpassen.
So hat sich die Börse in einer wachsenden Blase abgekoppelt von der realen Wirtschaft. Ist weitgehend Psychologie, die mehr auf der Stimmung der Masse als auf Fakten beruht. Der Kursverlauf wird zum Spiegel übersteigerter Erwartungen, Hoffnungen - und Illusionen.
Und so lange nur genügend Anleger Aktien kaufen, ihre Zweifel und Skepsis verdrängen, geht ja alles gut. Oft genug hat der Ticker in den letzten Monaten die Pessimisten und Mahner widerlegt.
Doch immer mehr Experten sorgen sich inzwischen um die Kurse. Der neue US-Präsident Herbert Hoover, der früher Wirtschaftsminister war, hält sie für zu hoch, aber er schweigt dazu in der Öffentlichkeit.
Die Warnungen vor einer großen Krise nehmen zu
Besonders beunruhigend ist, wie viele Menschen inzwischen auf Pump spekulieren.
Anleger müssen nur etwa 45 bis 50 Prozent des Kaufkurses einer Aktie in bar bezahlen. Den Rest des Kaufpreises finanziert ihr Makler, der dafür ein Darlehen von einer Bank erhält. Als Sicherheit für den Kredit dienen wiederum die Aktien - solange die im Wert zunehmen, funktioniert das waghalsige Modell.
Für die Banken immerhin ist es ein lukratives Geschäft. Denn sie können sich bei der Federal Reserve, der USZentralbank, für etwa fünf Prozent Zinsen Geld leihen. Geben sie es als Kredit an die Kunden der Börsenmakler weiter, kassieren sie bis zu zwölf Prozent.
Noch im Jahr 1926 überstieg die Gesamtsumme dieser Maklerkredite kaum 2,5 Millionen Dollar. Im Sommer des Booms aber liegen sie bei sieben Milliarden.
Ein großer Teil der Euphorie ist also mit Schulden finanziert.
Die amerikanische Zentralbank könnte die überhitzte Spekulation abkühlen - durch eine drastische Zinserhöhung.
Doch der Washingtoner Vorstand des erst 1913 gegründeten Federal Reserve Systems mit seinen zwölf regionalen Banken ist politisch schwach. Er will nicht für ein Ende des Börsenbooms verantwortlich gemacht werden.
Und er hat einen mächtigen Gegner:
Charles Mitchell ist seit Januar 1929 auch Direktor der New Yorker Zweigstelle des Federal Reserve Systems. Und Sunshine Charly streitet gegen alles, was den Höhenflug der Börsenkurse stoppen könnte.
Als die Zentralbanker in Washington im Frühjahr 1929 vorsichtig erwägen, die Zinsen zu erhöhen, verteuern sich sofort die Maklerkredite, und die Kurse an der Wall Street fallen. Charles Mitchell reagiert. Er lässt über seine National City Bank frisches Kapital in den Markt pumpen. Die Aktienkurse erholen sich prompt.
Anfang Oktober 1929: Die seit etwa einem Monat anhaltenden, merkwürdigen Schwankungen der Kurse verunsichern in Los Angeles den 40-jährigen Edgar Brown, einen ehemaligen Theaterbesitzer.
Ende 1928 hat er sich von einem Anlageberater der National City Bank Mitchells überreden lassen, Aktien zu kaufen, auch welche der Bank selbst.
Brown wohnte zu jener Zeit in Pottsville, Pennsylvania, und war an Tuberkulose erkrankt. Er wollte sich an der Westküste zur Ruhe setzen und von den Einkünften aus seinem Vermögen leben. Er suchte Anlagen mit sicherer Rendite und hatte schon vor einiger Zeit 225 000 Dollar in Anleihen angelegt.
Doch dann hat auch ihn der Börsenrausch erfasst - und er hat sein ganzes Vermögen in Aktien angelegt.
Jetzt verliert Browns Portfolio beständig an Wert, und so macht er sich auf den Weg in die Los-Angeles-Filiale der National City Bank. Er will alle Papiere verkaufen. Sofort umringen ihn mehrere Berater. Seine Idee sei "töricht und kurzsichtig". Edgar Brown ist verwirrt, schließlich aber lässt er sich überzeugen, sein Depot weiter zu halten.
Dienstag, 15. Oktober 1929: Die Aktie von U.S. Steel fällt weiter - auf rund 223 Dollar, ein Verlust von 9,4 Prozent in zehn Tagen.
In den Finanzblättern häufen sich schlechte Nachrichten - auch aus dem Ausland: In Großbritannien ist das Imperium des berühmten Finanzmagnaten Clarence Hatry kollabiert. Offenbar hat der Geschäftsmann seinen Erfolg auf Fälschungen und Betrug gegründet. Die Nachricht erschüttert in New York das Vertrauen der Anleger weiter.
Mittlerweile verdrängen die Aktionäre solche Nachrichten nicht mehr. Das Misstrauen pflanzt sich fort. Und diesmal greift eine verhängnisvolle Eigendynamik:
Eine neue, nun negative Stimmungswelle baut sich auf, verstärkt sich selbst, türmt sich langsam zu einer Woge - die irgendwann alles mit sich fortreißen könnte.
Charles Mitchell aber versucht routiniert, die Skepsis der Anleger zu zerstreuen.
"Ich kann entgegen einigen Schwarzsehern nicht erkennen, was das Wachstum bremsen sollte", erklärt er vor Reportern.
Irving Fisher, ein bekannter Wirtschaftsprofessor aus Yale, pflichtet ihm bei: "Aktienwerte haben jetzt anscheinend ein beständig hohes Niveau erreicht." In einigen Monaten würden die Kurse "noch viel höher liegen".
Edgar Brown in Los Angeles glaubt jedoch nicht mehr an die Versprechen seiner Berater. Mehrmals versucht er, seine Wertpapiere loszuwerden. Jedes Mal wimmeln ihn Mitchells Anlageprofis ab: Es sei weitaus wahrscheinlicher, dass seine Aktien der National City Bank, die bei 500 Dollar stehen, auf 1500 kletterten, als dass sie unter 300 fielen. Und jedes Mal lenkt Brown ein.
Pat Bologna ist gelassener. Er hat Ende September einige Hundert Dollar verloren - auf dem Papier. Für ihn kein Grund zur Sorge. "Was nach unten geht, kann auch wieder steigen", sagt er sich.
Doch die Warnungen vor einer großen Krise nehmen zu.
Mittwoch, 23. Oktober 1929:
Am Tag zuvor hat der Statistiker Babson empfohlen, alle Aktien zu verkaufen und lieber in Gold zu investieren. Selbst der optimistische Yale-Ökonom Fisher räumt nun ein, es gebe Wertpapiere, "die ein wenig aufgebläht sind".
Die Stimmung an der Wall Street scheint zu kippen: Die Verkäufe häufen sich. Allein in der letzten Handelsstunde dieses Tages wechseln 2,6 Millionen Aktien den Besitzer - mehr als manchmal an einem ganzen Tag. Insgesamt sind es an diesem Mittwoch sogar 6,37 Millionen: der zweithöchste Tagesumsatz in der Geschichte der New Yorker Börse.
"Die Büros der Wertpapierhändler in der Wall Street und im ganzen Land waren voll von Kunden", schreibt später ein Chronist. "Aber es waren ängstliche, aufgeregte und angespannte Männer und Frauen, die zusahen, wie ihre Papiere vom Börsenmahlstrom herumgewirbelt wurden; das muntere Geplauder fehlte gänzlich." Mehr als 170 Papiere fallen so tief wie noch nie in diesem Jahr - U.S. Steel wird zuletzt bei 204 Dollar notiert. Nach Auffassung vieler Beobachter ein untrügliches Zeichen, dass eine Baisse, eine Börsentiefphase, begonnen hat. Ein Kursrutsch, den niemand mehr leugnet.
Die Börsenmakler fordern die Eigentümer besonders risikoreicher Aktien auf, die Sicherheiten für kreditfinanzierte Papiere auf 75 Prozent des aktuellen Kurswertes zu erhöhen. Doch viele Spekulanten haben nun kein Bargeld mehr, das sie nachschießen könnten. Sie müssen ihre Depots auflösen, sie liquidieren lassen. Andere nehmen verzweifelt Hypotheken auf ihr Haus oder andere Besitztümer auf, um mit dem frischen Geld die Papiere halten zu können.
Große Teile des Mittleren Westens sind an diesem Tag durch Schneesturm von allen Tickerverbindungen abgeschnitten.
Was, wenn morgen auch dort die Anleger verkaufen? Die Wall Street bereitet sich auf das Schlimmste vor.
Tatsächlich entschließen sich im Laufe des Abends zahllose Anleger, ihre Papiere abzustoßen. Bei den Maklern geht für den nächsten Tag eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Verkaufsaufträgen ein.
New Yorks Polizeichef beobachtet die Börsenstimmung mit Sorge
Donnerstag, 24. Oktober 1929, 9.50 Uhr: Ein wolkenverhangener Morgen, kalter Wind bläst durch die Straßen des New Yorker Finanzdistrikts. Zehn Minuten noch, bis die Börse öffnet. In seinem Büro im zweiten Stock des Verwaltungsgebäudes der National City Bank hat Charles Mitchell in der Nähe eines Kurstickers Platz genommen.
Draußen von seinem Stand in der Wall Street aus bemerkt Pat Bologna, dass viele Passanten stehen bleiben und zum Eingang der Börse hinaufblicken. Zu jenem Portal, in dessen krönendem Fries die weiße Marmorstatue der Integrity (Redlichkeit) ihre schützenden Hände über Bauern, Bergleute, Arbeiter und Erfinder breitet. Nicht über Aktionäre.
New Yorks Polizeichef, der die nervöse Börsenstimmung mit Sorge beobachtet, lässt ein Dutzend Mannschaftswagen vorfahren - für alle Fälle. Schon früher sind Menschenmassen im Finanzdistrikt zusammengelaufen, so 1907 bei einer Bankenpleite. Und 1920 wurden durch ein nie aufgeklärtes Sprengstoffattentat in der Wall Street sogar 30 Menschen getötet.
Aus der nahen U-Bahn-Station ist hundertfaches Getrampel zu hören: Anleger, die sich beeilen, noch rechtzeitig in die Büros ihrer Börsenmakler im Finanzbezirk zu kommen, bevor die ersten Kurse über den Ticker gehen.
Der prächtige, fast 1500 Quadratmeter große Handelssaal der Börse ist heute so voll wie selten. Fast alle sind gekommen: Mehr als 1000 registrierte Händler haben auf dem Parkett Posten bezogen, etwa 300 mehr als an gewöhnlichen Tagen.
An den Seiten des Saals haben Dutzende von Telefonisten an ihren Fernsprechern Aufstellung genommen. Sie werden gleich Aufträge für Kauf oder Verkauf aus den Maklerbüros im ganzen Land entgegennehmen. Hoch oben, an den beiden Schmalseiten des rund 22 Meter hohen Saales, über den sich eine vergoldete Decke spannt, hängen zwei große schwarze Anzeigetafeln.
Geht für einen Makler eine Nachricht ein, lässt der Telefonist per Knopfdruck die persönliche Erkennungsnummer dieses Händlers auf den großen Tafeln aufklappen: das Signal für den Mann auf dem Parkett, sich sofort zu einem speziellen Schalter zu begeben.
Mit dem Auftrag eilt er dann zu einem der mehr als 20 Schalter, die über die Fläche des großen Saales und im Parterre des modernen Anbaus verteilt sind (jede der insgesamt 1279 Aktien wird nur an einem einzigen Schalter gehandelt). Dort nimmt ein Angestellter der Börse die Order entgegen.
Wie immer stehen heute an allen Schaltern Gehilfen in Uniform bereit. Über die Rohrpostanlage verschicken sie nach jedem Handel eine Notiz an einen Schreiber, der dann den aktuellen Kurswert des Papiers über den Ticker gibt.
Etwa 8000 dieser Apparate, kaum größer als ein Telefon, sind jetzt im ganzen Land auf Empfang und mit frischen Papierrollen versehen: in Banken, Maklerbüros, Hotels und sogar in einigen Privathäusern. In wenigen Minuten wird aus den Geräten ein schmaler Papierstreifen herausquellen, mit Kürzeln, die über Gewinn oder Verlust informieren - rund ein Kilometer Papier an einem ruhigen Börsentag.
Im großen New Yorker Handelssaal erglimmen jetzt die Leuchtbänder: Spezielle Ticker drucken die Kurse auf Zellophan; über Linsen und Spiegel werden die Schriftzeichen dann auf einen Bildschirm geworfen. So kann jeder Händler auch im Gewühl, das gleich losbrechen wird, die Kurse im Blick behalten.
10.00 Uhr: Der Gong ertönt. Sofort klingeln die Telefone, die weißen Ziffern auf den großen dunklen Anzeigetafeln klappen heftig auf und zu. Händler kämpfen sich zu den Telefonen durch und von dort an die Schalter auf dem Parkett. Der Markt eröffnet an diesem Morgen "wie ein Donnerkeil aus der Hölle", so erscheint es einem von ihnen.
Denn gleich in den ersten Minuten stehen Aktien in riesigen Blöcken zum Verkauf, etwa 20 000 Anteile von Kennecott Copper - völlig unüblich zu Börsenbeginn.
In der ersten halben Stunde wechseln 1,6 Millionen Papiere die Besitzer.
Trotzdem geben die Kurse in den ersten Minuten nur vereinzelt nach.
Nackte Panik auf dem Parkett der New Yorler Börse
10.30 Uhr: Immer mehr Aktien stehen zum Verkauf. Die Kurse fallen in großen Sprüngen. 285 Anschläge kann der Ticker pro Minute drucken, aber es gibt so viele Transaktionen, dass der Apparat bereits eine Viertelstunde zurück ist.
10.50 Uhr: Pat Bologna zwängt sich in den überfüllten Kundenraum eines Börsenmaklers nicht weit von seinem Schuhputzstand. Er will sehen, wie seine Papiere stehen. Eine Frau mit großem Hut verdeckt ihm den Blick auf die Tafeln mit den Kursen. Sie hat ihren Ehering abgestreift und ruft verzweifelt:
"Sie wollen mehr Nachschuss - ich kann kein Geld mehr nachschießen." Die Menschen versuchen, sich zu den verglasten Nischen vorzukämpfen, in denen die Angestellten sitzen. Alle wollen verkaufen. Ein Gehilfe notiert mit Kreide die aktuellen Kurse aus der Börse auf einer großen Tafel, doch die Werte fallen schneller, als er schreiben kann.
So gut wie alle Aktien sind betroffen.
Die Hysterie ist ansteckend. Doch der Schuhputzer erinnert sich an einen Rat, den ihm Charles Mitchell höchstpersönlich gegeben hat: "Der Kluge verkauft niemals bei den ersten Zeichen einer Krise. Das machen nur Geizhälse." Sunshine Charly muss es wissen. Pat Bologna dreht sich um und schiebt sich durch die Menge zurück ins Freie. Er will seine Aktien vorerst behalten.
11.15 Uhr: Eine Lawine von Verkaufsaufträgen rollt über den Handelssaal.
Makler lösen immer mehr kreditfinanzierte Depots ihrer Kunden auf. Die Notverkäufe drücken die Kurse weiter nach unten. Rasant fällt die auf Milliarden an Krediten gestützte Spekulationsblase in sich zusammen. "Luftlöcher" bilden sich: Für manche Papiere gibt es keine Käufer mehr.
11.30 Uhr: Nackte Panik auf dem Parkett.
Hunderte Händler schreien durcheinander, boxen sich den Weg frei zu den Schaltern, in der Hoffnung, wenigstens ein paar Aktien loszuwerden. Jetzt ist der Markt "blind", wie die Händler sagen:
Niemand weiß, wo die Papiere wirklich stehen.
An einem Schalter verliert ein Händler die Fassung und brüllt sinnlose Aufträge, bis ihn Kollegen wegführen.
Draußen vor dem Portal der Börse ist inzwischen eine Menschenmenge zusammengekommen. Auf den Stufen des Gebäudes gegenüber nehmen Fotografen und Kameraleute der Wochenschau Aufstellung. Alles vollzieht sich merkwürdig gedämpft. Nicht mehr als ein Murmeln oder Flüstern dringt aus der Masse, nur hier und da ein schrilles Auflachen. Die Menschen scheinen nicht fassen zu können, was gerade geschieht.
"Ihre Gesichter zeigen weder Hysterie noch Kummer", bemerkt ein Beobachter. "Sie blicken wie ein gefangener Fisch, der am Strand oder im Korb auf sein weiteres Schicksal wartet." Als plötzlich auf einem hohen Gebäude ein Mann zu sehen ist, verdrehen alle die Köpfe nach oben. Doch es ist nur ein Arbeiter, der dort etwas repariert - kein Spekulant, der wegen der Krise in den Tod springen will.
Fast 13 Millionen Aktien haben am Schwarzen Donnerstag den Besitzer gewechselt
12.00 Uhr: Eine Nachricht macht die Runde. Fünf der mächtigsten Bankiers des Landes wollen gegenüber der Börse im Sitz der Investmentbank JP Morgan & Company zu einem Krisentreffen zusammenkommen. Eine legendäre Adresse: Von hier aus hat John Pierpont Morgan, der inzwischen verstorbene Gründer des Geldhauses, 1907 mit Hilfe des Finanzministeriums eine Börsenpanik durch Stützungskäufe gestoppt.
Charles Mitchell erhält die telefonische Einladung in seinem Büro. Er ist der Erste, der sich mit ernster Miene einen Weg durch die Menge bahnt.
Viele schöpfen Hoffnung: Die Talfahrt scheint gebremst.
Wenig später treffen auch Albert H.
Wiggin, Generaldirektor der Chase National Bank, William C. Potter, Präsident der Guaranty Trust Company, und Seward Prosser, Vorsitzender der Bankers Trust Company, ein. 20 Minuten dauert das Gespräch in den Räumen des Gastgebers Thomas W. Lamont, Seniorpartner von JP Morgan. Dann erklärt ein Sprecher vor Journalisten, es habe "einen etwas unglücklichen Verlauf an der Börse gegeben". Die Banken hätten sich entschlossen einzugreifen.
Mitchell und die anderen Finanzleute wollen den Kursrutsch durch gezielte Aktienkäufe stoppen. Sie stellen dazu etwa 130 Millionen Dollar bereit.
13.30 Uhr: Der Vize-Präsident der Börse erscheint auf dem Handelsparkett.
Demonstrativ gut gelaunt arbeitet er sich zu dem Schalter vor, an dem U.S. Steel gehandelt wird; das Papier ist seit dem Morgen von 205,50 auf 195 Dollar gefallen. Mit lauter Stimme erteilt der Vizepräsident einen Kaufauftrag über 10 000 Anteile - für 205 Dollar.
Staunen, dann Beifall unter den Händlern ringsum. Der Retter geht weiter zu anderen Schaltern, platziert noch etwa 20 Kaufordern auf andere Papiere. Es ist das Zeichen, auf das viele gewartet haben.
Sofort steigen die Kurse kräftiger.
15.00 Uhr: Der Schlussgong. Dann ein Augenblick der Stille. An den Schaltern lehnen erschöpfte Aktienhändler, manche mit zerrissenem Hemdkragen; andere stehen wie benommen da, in ihren Händen Bündel von nicht erledigten Aufträgen.
Erst vier Stunden und acht Minuten später meldet der Ticker die letzte Transaktion.
Fast 13 Millionen Aktien haben an diesem Tag den Besitzer gewechselt, so viele wie noch nie in der Geschichte der Wall Street.
Zwischenzeitlich hat der Dow-Jones- Index 33 Punkte verloren - fast elf Prozent. Bis zum Abend aber zogen die Kurse wieder so weit an, dass der Verlust nur noch gut zwei Prozent beträgt.
Der Index steht jetzt bei 299,5 - nur 6,4 Punkte niedriger als am Morgen.
Die U.S.-Steel-Aktie hat sogar zugelegt, auf 206 Dollar. Die Katastrophe scheint abgewendet.
Doch für viele Anleger kommt der Umschwung vom Nachmittag zu spät.
Sie haben morgens verkauft, oder ihre Depots wurden von Maklern liquidiert.
Vorbei der Traum vom mühelosen Reichtum.
Und viele von ihnen sind ruiniert, weil sie sich zuvor hoch verschuldet hatten. In Seattle erschießt sich der Sekretär einer Finanzgesellschaft. In Manhattan verschwindet ein Immobilienmakler spurlos; zuletzt wird er gesehen, wie er den Broadway hochgeht und eine Botschaft aus dem Fernschreiber in kleine Fetzen zerreißt.
Die Menge vor der Börse zerstreut sich. Doch der Finanzdistrikt kommt nicht zur Ruhe. 50 000 Menschen arbeiten hier, und viele Büros bleiben bis in die Nacht hell erleuchtet. Die Angestellten der Börsenfirmen müssen die Transaktionen des Tages abwickeln.
Am Abend erklärt Mitchell vor Journalisten, die Schwierigkeiten seien "rein technischer Natur", das Fundament des Aktienmarktes sei "davon unberührt".
Zweimal ist der Vorstand der Zentralbank in Washington an diesem Tag zusammengetreten, aber er hat keinen Beschluss gefasst, nicht einmal einen Kommentar abgegeben. Auch Präsident Hoover schweigt.
Der Dow-Jones-Index verliert 38,3 Punkte
Freitag, 25. Oktober 1929: New Yorks Polizeichef schickt 400 Streifenpolizisten und 100 Kriminalbeamte zur Wall Street. Auch viele Schaulustige reisen an, in Erwartung eines neuen Spektakels.
Doch die Kurse steigen an diesem Tag sogar ein wenig.
Präsident Herbert Hoover verkündet, die Wirtschaft der Vereinigten Staaten ruhe auf einem "gesunden Fundament", er sagt nicht, der Aktienmarkt sei in einer gesunden Verfassung.
An diesem Tag erreicht die Schockwelle vom Vortag die Börsen Englands und anderer europäischer Staaten.
Auch dort brechen die Kurse ein; in London versuchen Spekulanten, amerikanische Aktien loszuwerden.
Am Samstag öffnet die Wall Street nur für zwei Stunden. Diesmal fallen die Kurse leicht, der Dow-Jones-Index schließt bei 298,9. Die Wochenendausgaben der Zeitungen sind voller Reklame- Prospekte der Aktienmakler. Eine Börsenfirma schaltet eine Annonce für Montag: "Wir glauben, dass der Investor, der zum jetzigen Zeitpunkt Wertpapiere kauft, dies mit allergrößtem Vertrauen tun kann, wenn er das Geschäft mit jenem Maß an Urteilsvermögen abschließt, das immer schon die Voraussetzung für kluge Geldanlagen war. " Doch kaum ein Anleger glaubt noch an die wohlgesetzten Versprechungen der Makler. Wo vorher Euphorie war, ist nun Angst. Immer mehr Aktionäre wollen ihre Papiere so schnell wie möglich abstoßen - gleichgültig, wie gesund die amerikanische Wirtschaft angeblich noch ist. Die Welle negativer Erwartungen wird jetzt zur zerstörerischen Woge, erfasst das Heer der Kleinanleger, dann die großen Banken und Investmenthäuser und wird die Kurse schließlich mit Macht in die Tiefe ziehen.
Montag, 28. Oktober 1929: Als um 10.00 Uhr die Wall Street eröffnet, gehen fast nur Verkaufsaufträge ein. Auf dem Parkett herrscht ein ähnlicher Tumult wie in der Woche zuvor. Ein weiterer "schwarzer" Handelstag. Und rasch wird deutlich, dass dieser Schwarze Montag den Schwarzen Donnerstag der vergangenen Woche an Dramatik noch überbietet. Was an diesem Tag geschieht, ist katastrophaler als jeder bisherige Kursrutsch an New Yorks Börse.
Der Dow-Jones-Index verliert 38,3 Punkte und schließt bei 260,6 - ein Verlust von fast 13 Prozent gegenüber Samstag. U.S. Steel wird zuletzt für 186 Dollar gehandelt. Die Aktien in den USA büßen an diesem einen Tag 14 Milliarden Dollar an Wert ein. Haben am Donnerstag vor allem Kleinanleger gelitten, so trifft es jetzt auch viele reiche Spekulanten.
Nach Börsenschluss versammeln sich die sechs einflussreichsten Bankiers der Wall Street, auch Charles Mitchell ist wieder dabei. Danach lassen sie erklären, die Lage habe "noch hoffnungsvolle Merkmale". Die eigentliche Botschaft:
Die Bankiers werden nichts mehr unternehmen, um die Aktienpreise zu stützen.
Sie wollen den Markt sich selbst überlassen.
Und die Anleger.
29. Oktober 1929: Die Panik erreicht ihren Höhepunkt
Die Finanzleute erkennen, dass jetzt wohl nichts mehr den Kursverfall stoppen kann. Die kollektive, in vielem irrationale Stimmung, die die Preise einst nach oben getrieben hat, ist endgültig in das kaum weniger irrationale Gegenteil gekippt. Jeder Stützungskauf würde schon bald verpuffen.
Edgar Brown in Los Angeles erhält am Abend einen Anruf. Sein Anlageberater von der National City Bank ist am Apparat: "Brown, es sieht verdammt schlecht aus. Sie kommen besser her und passen auf. Sonst werden Sie mit untergehen."
Dienstag, 29. Oktober, Los Angeles, 6.00 Uhr Ortszeit: Edgar Brown steht früh auf und macht sich auf den Weg zur Filiale der National City Bank.
Er will da sein, wenn die ersten Kurse aus New York über den Ticker kommen - dort ist es jetzt 9.00 Uhr, eine Stunde vor Börsenbeginn.
Die erste Notierung meldet den Verkauf von 45 000 Aktien Anaconda Copper. Davon hat auch Edgar Brown viele in seinem Depot. Gestern stand das Papier bei 96 Dollar, jetzt bei 80.
Wie hatte sein Berater doch gesagt?
"Wenn sich der Trend in der ersten Stunde umdreht, wird alles in Ordnung gehen. Wenn nicht, müssen sie aufpassen." Im Kundenraum der National City Bank, Los Angeles, wird die Unruhe größer.
In New York wechseln in der ersten halben Stunde nach Eröffnung mehr als 3,2 Millionen Aktien den Besitzer. Die Preise stürzen weiter ab.
Edgar Brown versucht, sich nicht von der Panik überwältigen zu lassen. Er will nach draußen gehen, ein wenig frische Luft schöpfen, einen klaren Gedanken fassen. Da tritt der Berater ihm in den Weg: "Die National City Bank kollabiert, und die Kurse sind in Wahrheit noch tiefer, als sie hier notiert werden.
Ich empfehle Ihnen auszusteigen." Brown willigt ein, die Bankaktien zu verkaufen.
Etwa zur gleichen Zeit steht Pat Bologna an einem Münztelefon in der Wall Street. Er hat bei seinem Makler angerufen, um alle Aktien der National City Bank abzustoßen. Nach einiger Zeit kommt ein Angestellter an den Apparat und meldet den Vollzug der Transaktion: Von den 5000 Dollar an Ersparnissen sind 1700 übrig.
12.00 Uhr: Kurz nach Mittag gehen mehrere Meldungen über die Nachrichtenagenturen.
In Washington tage der Vorstand der Zentralbank mit dem Finanzminister, das Kabinett berate sich, Präsident Hoover treffe sich mit dem Handelsminister. Doch kein Politiker und kein Banker kann das Debakel mehr aufhalten.
Vor der New Yorker Börse sind 10 000 Menschen zusammengelaufen; einem Beobachter erscheint die Straße wie ein Schauplatz "gestorbener Hoffnungen, sonderbar stummer Befürchtungen und einer Art hypnotischer Lähmung".
17.32 Uhr: Zweieinhalb Stunden nach Börsenschluss meldet der Ticker die letzte Kursnotierung an diesem Tag, mit einem ironischen "Gute Nacht" auf dem Papierstreifen.
Fast 16,5 Millionen Aktien sind abgestoßen worden - deutlich mehr als am Schwarzen Donnerstag. U.S. Steel sinkt um zwölf Dollar und wird zum Börsenschluss bei 174 Dollar gehandelt. Der Dow-Jones-Index fällt auf 230,7 Punkte; seit dem Höchststand am 3. September haben dessen Aktien ein Drittel ihres Werts verloren.
Die Gewinne des euphorischen Sommers, ja der vergangenen zwölf Monate haben sich aufgelöst.
Hunderttausende Angestellte und Arbeiter, Fensterputzer, Chauffeure, Näherinnen und Stenotypistinnen, die ihr Erspartes riskiert haben, stehen ohne Vermögen da. Spekulanten, die noch vor wenigen Wochen auf dem Papier vielfache Millionäre waren, haben nun Millionen an echten Schulden.
Nahezu in jeder amerikanischen Stadt gibt es Familien, die aus plötzlichem Wohlstand in Armut gefallen sind.
Der 29. Oktober ist der katastrophalste Tag in der Geschichte der Wall Street.
Zwar sind die Verluste etwas geringer als am Vortag. Dennoch: Nie zuvor war der Handel so hektisch, wurden so viele Aktien an der Wall Street verkauft - ein fast zweieinhalb Kilometer langer Papierstreifen quillt aus dem Ticker.
Die Panik erreicht ihren Höhepunkt.
"Dieser Kurseinbruch ist mit keinem früheren zu vergleichen", schreibt das angesehene "Wall Street Journal". "Er ist anders, weil wahrscheinlich mehr Einzelpersonen ruiniert wurden als bei allen anderen zusammen." Und wohl mehr Träume und Hoffnungen als je zuvor sind zerstört. Die Magie des ewig scheinenden Sommers ist entzaubert. Die gerühmte "Neue Ära" ist endgültig vorbei.
Und der Absturz der Aktien ist noch lange nicht zu Ende.

Auf den Börsencrash folgt die Great Depression
Montag, 8. Juli 1932: Erst jetzt, mehr als anderthalb Jahre nach dem Crash, kommt der Kurssturz an der New Yorker Wall Street zum Stillstand. An diesem Tag schließt der Dow Jones bei 41,22 Punkten, weniger als einem Neuntel seines Rekordstands vom 3. September 1929. Und die Aktie von U.S. Steel steht am Ende des Börsentages bei 21,50 Dollar - ein Verlust von mehr als 90 Prozent gegenüber der höchsten Notierung im Sommer des Booms.
Inzwischen hat eine schwere allgemeine Wirtschaftskrise das Land erfasst, die bereits - mit ersten Anzeichen - kurz vor der Börsenkrise begann. Und die durch den Crash und seine Folgen unheilvoll verstärkt worden ist. Denn auch die Banken haben bei den Ereignissen Millionenverluste erlitten, allein 1929 sind 659 von ihnen zusammengebrochen, inzwischen mussten noch einmal 3646 Geldhäuser schließen.
Die übrig gebliebenen Banken geben kaum günstige Kredite, sodass Firmen weniger investieren. Zudem sinkt die Nachfrage nach Konsumgütern: Die Menschen haben kein Geld mehr, um neue Autos, Kühlschränke oder Radios anzuschaffen. Unternehmen senken die Löhne oder entlassen Mitarbeiter; die Arbeitslosen können noch weniger konsumieren.
Eine Abwärtsspirale dreht sich. Bankenkrise und Börsencrash vertiefen die schwelende Wirtschaftskrise. Zudem ziehen im Sommer 1930 eine Dürre und Missernten den Ruin vieler Farmer nach sich. So kommen mehrere Negativfaktoren zusammen.
Auf den Great Crash folgt die Great Depression: 1933 sind fast 13 Millionen US-Bürger ohne Arbeit - jeder vierte Erwerbsfähige.
Verglichen mit dem Jahr 1929, ist die Produktion amerikanischer Firmen um die Hälfte gesunken. Die Stahlwerke sind sogar nur noch zu etwa zwölf Prozent ausgelastet. Unternehmer kürzen weiter drastisch die Löhne ihrer Arbeiter.
In New York leben mehr als eine Million Menschen von Sozialhilfe. Viele müssen ihre Wohnungen und Häuser räumen. Luxusapartments stehen leer, ärmliche Gegenden bekommen Zulauf, Barackensiedlungen breiten sich aus.
Obdachlose kampieren im Central Park.
Verzweifelte ziehen durch die Straßen, auf der Suche nach Arbeit oder Essen.
Um mehrere Häuserblocks winden sich die Schlangen Wartender vor den Suppenküchen. Nicht wenige durchwühlen den Müll nach Nahrung. Im Schatten der Wolkenkratzer, mitten in Downtown Manhattan, stehen Tausende Apfelverkäufer, die hoffen, damit ein paar Cent zu verdienen.
In der Metropole am Hudson verhungern Menschen.
Das Misstrauen gegenüber Aktien hält an
Jahrelang währt die Krise. Sie ist so schwer und so andauernd, gerade weil sich in ihr mehrere Krisen gegenseitig potenzieren.
Es ist die Great Depression, die dem Einbruch an der Börse noch mehr Wucht, seinen ungeheuren Nachhall verleiht.
Und sie lässt die Monate des Sommers 1929 im Rückblick umso mythischer und märchenhafter erscheinen.
Auch weil die Depression anhält, untersucht ein Ausschuss des US-Senats 1932 die Vorgänge an der Wall Street.
Peinliche Details über heimliche Absprachen und Bilanzfälschungen kommen ans Tageslicht.
1934 schaffen die Politiker eine Bundesbehörde, die die Geschäfte der Broker kontrollieren und das Vertrauen der Anleger in die Wall Street wiederherstellen soll.
Und Amerikas Wirtschaft beginnt wieder zu wachsen, als der neue Präsident Franklin D. Roosevelt 1933 den New Deal auf den Weg bringt, ein Bündel sozialer und ökonomischer Reformen, das die Konjunktur belebt. Von den nun folgenden staatlichen Aufträgen und Hilfsmaßnahmen profitieren viele Branchen in Landwirtschaft und Industrie - sowie das Bankensystem.
Aber das Misstrauen gegenüber Aktien hält an. Kein anderes Ereignis hat sich so tief in das Gedächtnis der Anleger eingeprägt wie der Crash vom Oktober 1929. Seither begleitet jeden Höhenflug der Kurse auch die Angst vor einem jähen Absturz.
Charles Mitchell, der Prophet des Aktienbooms, verspielt bei den dramatischen Ereignissen wahrscheinlich mehrere Millionen Dollar und wird 1933 wegen Steuerhinterziehung angeklagt.
Nach einem Zivilprozess muss er 1,1 Millionen Dollar an die Staatskasse zahlen.
Doch danach setzt Sunshine Charly seine Karriere an der Wall Street fort.
Edgar Brown verliert fast alles. Von der Viertelmillion, die er investiert hat, bleiben ihm 6000 Dollar. Zu wenig für ein Leben als Rentier. Er zieht in seine Heimatstadt zurück und muss - obwohl fast taub und von Tuberkulose geschwächt - wieder arbeiten. Als Angestellter der Armenfürsorge von Pottsville bringt er sich und seine Familie durch.
Und Pat Bologna? Der putzt noch bis ins hohe Alter Schuhe. Die der Bankiers und Börsenmakler an der Wall Street.