I. Die Ahrtal-Sucht
Es beginnt am 15. Juli 2021. In der Nacht ist die Flutwelle durch das Ahrtal gerollt. Nadine Eßer wohnt einige Kilometer abseits des Hochwassergebiets. Sie arbeitet als Justizfachangestellte am Gericht in Ahrweiler. Akten bearbeiten, Sitzungsdienst, Protokolle führen. Um fünf Uhr morgens schaltet sie ihr Handy an und liest: Die Autobahn könnte bald einstürzen! Kollegen schicken Videos und Nachrichten. "Du brauchst heute nicht zur Arbeit zu kommen." Eßer fährt los Richtung Ahr.
In den ersten Tagen hilft sie in einem Spendenlager oberhalb des Tals. Später bringt sie Essen, Schippen und Kleidung runter an den Fluss. Sie watet in Gummistiefeln durch den Schlamm und will nicht mehr fort. Wenn das Telefon klingelt und der Anrufer sagt: "Nadine, wir brauchen einen Radlader und einen Bagger", dann besorgt Nadine Eßer Radlader und Bagger. Einmal heißt es: "Jetzt fehlt ein Helikopter." Eßer: "Das schaffe ich auch."
"Es war die tollste Zeit meines Lebens", sagt Nadine Eßer rückblickend. Dieser Satz könnte inmitten einer zertrümmerten Heimat widersinnig oder sogar zynisch klingen. Eßer möchte den Satz erklären. "Es gab kein Corona", sagt sie. "Es war so unkompliziert. Ich konnte wirklich etwas bewegen." Eßer, 37 Jahre alt, hilft seit Tag eins nach der Flut. Vielen Freiwilligen ist es wichtig, das zu erwähnen. "Tag eins" ist so etwas wie ein inoffizieller Orden.
Jetzt ist Eßer einige Zeit nicht mehr an der Ahr gewesen. Sie kommt gerade zurück aus einem Urlaub mit ihrer Tochter. Längst überfällig. Zwei Wochen Lübecker Bucht. Bei einer Fahrradtour habe sie zu ihrer Tochter gesagt: "Du fährst aber ziemlich wacklig." Das Mädchen antwortete: "Mama, ich konnte gar nicht üben, du warst ja nie da." Nadine Eßer sagt: "Da ist mir bewusst geworden, dass ich ihr fünftes Lebensjahr verpasst habe. Was habe ich nur getan."

Helfen kann so schön sein. Und einfach. Seit der Flut packen Tausende Freiwillige wie Nadine Eßer im Ahrtal mit an. Sie schenken den Menschen dort ihre Zeit, ihre Arbeitskraft und Hoffnung. Belohnt werden sie mit einem Hochgefühl. Jedes Handeln hat einen Wert: Schlamm schippen, Brötchen schmieren, Trösten. Alles ist logisch und zwangsläufig.
Helfen kann auch richtig kompliziert sein. Weil Betroffene abhängig von der Hilfe werden und Helfer nicht mehr vom Helfen loskommen. Weil Dankbarkeit erwartet wird und Hilfsbereitschaft keine Grenzen mehr kennt. Weil Helfen den einen herrisch macht und die andere krank. Im Ahrtal lässt sich gut beobachten, was Hilfe schafft. Und wann Hilfe scheitert.
Nadine Eßer ist alleinerziehend. In den Monaten nach der Flut bringt sie ihre Tochter morgens in die Kita, dann fährt sie ins Tal. Am Nachmittag holen die Großeltern oder befreundete Eltern das Kind ab und betreuen es. Eßer kommt spät nachts nach Hause, legt sich zu ihrer Tochter ins Bett und steht früh am Morgen wieder auf.
Einmal sprechen Nadine Eßers Eltern sie an: Sie solle sich mehr um ihre Tochter kümmern. Eßer: "Ich habe gesagt: Dem Kind geht’s doch gut. Schaut doch mal, wie es den Leuten im Tal geht. Ich wollte mein Privatleben nicht mehr haben. Meine Arbeit am Gericht erschien mir auf einmal so sinnlos."
Das Ahrtal war in den ersten Monaten nach der Flut offizielles Katastrophengebiet, aber nicht alles war eine Katastrophe. Hier entstand eine Parallelwelt, von der die Menschen im übrigen Land nichts ahnten. Natürlich gab es auch im Ahrtal das Coronavirus, aber kaum jemand interessierte sich dafür. Auch auf Verkehrsregeln achteten nur wenige. Was die Helfenden zum Leben brauchten – Essen, Wasser und ein Bett –, gab es gratis. Den wichtigen Rest auch: Verbundenheit, Freundschaft, Dankbarkeit, Sinn.
Es mag absurd klingen: Aber viele Menschen finden am Schauplatz einer Katastrophe etwas, das sie im Leben bewusst oder unbewusst vermissen. Sie tauschen eine empfundene Leere gegen Nähe, Gemeinschaft und das Gefühl, gebraucht zu werden. Die Leiterin eines Helfercamps spricht von "Crew Love"; einem Begriff aus der Musikszene, der die Liebe unter den Menschen einer Gruppe bezeichnet.
In dieser Zeit, in der alles neu und aufregend ist, verliebt sich Nadine Eßer in einen Helferkollegen. Wenn man sie nach dem Stand der Beziehung fragt, zuckt sie die Achseln und sagt: "Er steckt noch mitten in der Ahrtal-Sucht."
In einer Whatsapp-Gruppe unter Helfenden kommt immer mal wieder das Thema Sucht auf:
"Die Ahrtal-Sucht ist nicht zu unterschätzen. Ich hab das durch."
"Ja, die Sucht zu helfen, und bei vielen die Flucht aus dem Privaten ins Tal."
"Mir wird immer wieder angetragen, ich wäre an dem Punkt. Sehe das noch nicht so ganz ein. Habe zwar mein eigenes Leben weitgehend aufgegeben, distanziere mich ungewollt von tollen Kontakten und Freunden, aber ich habe hier was aufgebaut und habe Möglichkeiten, viel zu bewirken (...)"

Auch Katharina Scharping spricht von Sucht. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie leitet das Traumahilfezentrum im Ahrtal, das nach der Flut aufgebaut wurde. Es richtet sich an die Betroffenen und ausdrücklich auch an die Helfenden. Scharping sagt: "Ich habe Leute gesehen, die sind in den Entzug gekommen, als das Helfer-Shuttle im Winter Pause gemacht hat." Das Helfer-Shuttle war eine private Initiative, die Helfende mit Betroffenen vernetzte.
In Einzeltherapien und Gruppengesprächen hört Katharina Scharping, was beim Helfen alles schief gehen kann. Helfende beschweren sich über Betroffene aus dem Ahrtal: zu undankbar. Helfende beschimpfen sich gegenseitig. "Und regelmäßig sitzen Betroffene vor mir, die sagen: Ich möchte gern wieder auf eigenen Beinen stehen, aber ich kriege den Helfer nicht aus meinem Wohnzimmer." Katharina Scharping sagt: "Gerade für die, die im Ahrtal einen neuen Sinn im Leben gefunden haben, ist es schwer, aufzuhören."
Einige Menschen glaubten, weil im Ahrtal so viel zerstört wurde, könne man dort nun was ganz Neues anfangen, eine Utopie leben. Doch je mehr Zeit vergeht, desto mehr zeigt sich: das Neue ähnelt dem Alten. Mit Verkehrsregeln, Bürokratie und Streit. Nadine Eßer sagt, es sei natürlich gut, wenn ein wenig Normalität in das Ahrtal einziehe. "Andererseits war das Helfen mein großer Halt."
Sie ist irgendwann zusammengebrochen. "Wenn ich wach war, dann weinte ich." Die Psychologie kennt eine "sekundäre Traumatisierung", das Trauma trifft nicht die direkt Beteiligten, sondern die, die zugehört und zugesehen haben. Eßer wandte sich an die psychiatrische Ambulanz der LVR-Klinik Bonn. Im ersten Gespräch fragte die Therapeutin, wie das Leben vor der Flut ausgesehen habe. Nadine Eßer: "Ich konnte es nicht sagen. Es war weg."
Mit der Ahrtalsucht sei es nicht so wie mit der Alkoholsucht, sagt Katharina Scharping. "Man muss nicht sein Leben lang abstinent bleiben." Man müsse das richtige Maß finden. Und auch wieder das andere Leben zulassen. "Vielleicht die alten Freunde auch mal wieder besuchen."
Nadine Eßer fährt nur noch selten in das Tal. Sie gibt ab und an Tipps in der Whatsapp-Gruppe und kümmert sich um den Wiederaufbau von Spielplätzen. Sie führt Gespräche mit der Therapeutin und möchte sich wieder erinnern, wie der Alltag ohne das Tal aussah. Sie möchte ein bisschen von ihrem Ahrtal-Leben und viel von ihrem alten Leben. Sie möchte wieder für ihre Tochter da sein.
II. "Auch ’ne Prinzessin kann arbeiten"
An einem sonnigen Wochenende würde Yvonne von Strykowski wohl eine Motorradtour unternehmen. Sylwia Nowak würde in ihrem Garten für Ordnung sorgen, und Roswitha Klein würde wandern gehen. Stattdessen sind die drei Frauen mit anderen Menschen aus Dormagen am Samstagmorgen in zwei Kleinbusse der Freiwilligen Feuerwehr gestiegen, sie haben Werkzeug, Leitern, Stemmhämmer eingepackt, dazu Frikadellen in Alufolie, und sind 80 Kilometer in das Ahrtal gefahren, um zu helfen. Die Dormagener machen das seit Tag zehn nach der Flut, sie nennen sich "You’ll nev’Ahr walk alone". Helfende lieben Wortspiele.
An diesem Sonnabend wärmt die Märzsonne so sehr, dass die Helfenden T-Shirts tragen, manche noch weniger. Sie reißen eine Zimmerwand ein, die immer noch nach dem ausgelaufenen Heizöl aus der Flutnacht stinkt. Sie stemmen in einem anderen Haus den Putz von den Wänden. Und sie setzen auf dem Grundstück von Wilfried Laufer einen Zaun. Laufer, Betreiber eines Weinlokals, steht auf dem frisch renovierten Balkon im Obergeschoss, blickt hinunter auf die Männer und Frauen und findet ohne Zögern große Worte: "Einfach göttlich. Ohne diese Leute, würde ich den Wiederaufbau niemals schaffen." Bei all dem, was beim Helfen schief gehen kann, bleibt eines gewiss: Die Hilfe im Ahrtal ist meist willkommen und dringend notwendig.
In der Flutnacht starb Laufers Vater. Niemand hat gesehen, wie er umkam, durch die Mauern des zweiten Stocks seines Wohnhauses hatten sich drei Baumstämme gebohrt. Man fand die Leiche einige Tage später 25 Kilometer flussabwärts am Ufer der Ahr.
Laufer ist ein Mann, der streng guckt, aber freundlich spricht, so klar und überlegt, dass er beim Staatsakt für die Opfer der Flutkatastrophe nach dem Bundespräsidenten sprechen durfte. Jetzt sagt er, er habe genug getrauert, er möchte neu anfangen. Was die Truppe aus Dormagen an einem Tag leiste, sagt Laufer, dafür bräuchten er und seine Frau mindestens eine Woche.
Helfen ist nicht gleich Helfen. Die Wissenschaft kennt dafür verschiedene Begriffe. Da wäre einmal das Helfen an sich, dann das prosoziale Verhalten und der Altruismus. Allen Begriffen ist gemein, dass sie die Situation des Empfängers verbessern. Wenn also bei Wilfried Laufer an einem Tag eine Gästeterrasse entsteht, ohne dass er etwas dafür tun oder zahlen muss, könnte das alles sein: Helfen, prosoziales Verhalten oder reine Selbstlosigkeit.

Stewardessen helfen laut Definition, wenn sie im Flugzeug den Koffer in das Gepäckfach schieben. Geholfen haben auch Tausende Polizisten, die nach der Flut ins Ahrtal kamen. Helfen ist ihr Beruf. Prosoziales Verhalten und Altruismus existieren auch abseits von Arbeitsplatzbeschreibungen. Ein Altruist hilft selbstlos, ohne Bezahlung, vor allem ohne Erwartungen, ohne Bedingungen, er hat allein das Ziel, das Wohl anderer zu verbessern.
Weil Soziolog*innen und Psycholog*innen voller Misstrauen auf den menschlichen Charakter blicken, bezweifeln viele von ihnen, dass es diese Art völliger Selbstlosigkeit gibt. Sie prägten den Begriff vom "prosozialen Verhalten". Es ist eine Mischung, quasi die Hilfe, die wir alle am besten kennen: Sie geschieht freiwillig, ohne Bezahlung, sie hilft den Empfängern, aber auch immer ein bisschen den Helfern und Helferinnen. Weil sie zum Beispiel Dank bekommen, sich gebraucht fühlen.
Yvonne von Strykowski, Sylwia Nowak und Roswitha Klein schlagen an diesem Wochenende mit Vorschlaghämmern auf Mauersteine, der Staub rieselt und setzt sich millimeterdick auf Haut und Haare. Zwischendurch sagt Yvonne von Strykowski: "Ich würde gern mal ein Praktikum bei einem Fliesenleger machen." Und Roswitha Klein sagt: "In meinem nächsten Leben werde ich Schweißer." Die Frauen erleben beim Helfen eine Unmittelbarkeit ihrer Arbeit, die ihnen im Alltag fehlt. Am Ende des Tages sehen sie, was sie geschafft haben. Und dass es gut war.
Hermann Freibeuter, genannt "Hermi", gehört auch zur Dormagener Gruppe. Er arbeitet als Betriebsleiter in einer Sondermüllanlage. Vor einiger Zeit explodierte die Schwesteranlage in Leverkusen, sieben Menschen starben, und Freibeuter verlor einen guten Freund. In einer Pause erzählt er davon. "Das hier ist nicht vertane Freizeit", sagt Freibeuter über das Helfen im Tal. "Gegen den Tod meines Freundes kann ich nichts mehr tun, aber hier kann ich was ausrichten."
Wenn die Dormagener ins Ahrtal fahren, dann tun sie das für Wilfried Laufer und die anderen, die so viel verloren haben. Sie tun das aber auch ein wenig für sich selbst. Das ist nicht verwerflich, aber es ist wichtig, das zu wissen.

Einige Helfende, die den Orden "Seit Tag 1" tragen könnten, sind in den sozialen Netzwerken sehr aktiv. Einer hat auf Facebook mehr als 400 000 Follower, ein anderer versteigerte sein abgenutztes Käppi für mehr als 80 000 Euro – alles kommt den Flutopfern zugute. Die Kommentare: "Ihr seid einfach mega!", "Herzensmensch", "Helferheld". Facebook macht aus Helfenden Helden. Zum Rausch des Helfens gesellt sich der Rausch der Aufmerksamkeit.
Manchmal wird Helfen zum Selbstzweck. Es fällt dann nicht mehr in die Kategorie "prosoziales Verhalten". Die Verhältnisse kehren sich um. Das Gegenteil von Altruismus ist Egoismus.
Die Männer und Frauen aus Dormagen haben ein gutes Maß gefunden. Sie schuften zusammen, essen Frikadellen mit Staub im Haar, machen sich, fröhlich und unkompliziert, nützlich. Als Yvonne von Strykowski beim Mittagessen ihren Nachnamen nennt, gucken die anderen erstaunt. Sie kannten sich bislang nur mit Vornamen. Nachnamen, Berufe, das andere Leben – es war nicht wichtig. "Ja, auch ’ne Prinzessin kann arbeiten", sagt Yvonne von Strykowski. Dann lachen alle.
III. Wenn Hilfe hilflos macht
Rüdiger Fuhrmann hat 49 Jahre seines Lebens in Altenahr verbracht – zwei Jahre war er zum Studium fort. Er wohnt im Feuerwehrhaus, natürlich ist er Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Altenahr. Im Hauptberuf setzt er bei der Deutschen Bahn in Köln die Züge ein. Fuhrmann ist außerdem Ortsbürgermeister der Ortsgemeinde Altenahr, zu der auch die Ortsteile Reimerzhoven, Kreuzberg und Altenburg zählen. Eigentlich ist das ein Ehrenamt. Aber seit der Flut ist Fuhrmann bei der Deutschen Bahn freigestellt, sein Gehalt bezahlt die Verbandsgemeinde. Und Fuhrmann hat zum ersten Mal so etwas wie ein Rathaus: ein paar Container auf dem Gelände des Bauhofs.
Er macht jetzt keine normalen Bürgermeistersachen mehr, er war im Fernsehen, er stand neben der Bundeskanzlerin, er muss die Gemeinde von Grund auf neu aufbauen. Er soll auch Spenden verteilen. Hilfsbereite Menschen rufen an und fragen Rüdiger Fuhrmann, welche Familie denn besonders bedürftig sei. Fuhrmann sagt: "Das kann ich nicht, das will ich auch nicht. Da nennst du doch immer die Falschen." Die Ortsgemeinde hat ein Spendenkonto eingerichtet. Rüdiger Fuhrmann gehörte schon vor der Flut nicht zu den Bürgermeistern, die nach Geschenken suchten. "Sponsoring" nennt er das ein wenig abschätzig. Er sieht das eher pragmatisch: "Eine Gemeinde, die sich aus Steuergeldern finanziert, muss ohne Spenden auskommen."

Über die vielen Helfenden nach der Flut freute sich Fuhrmann trotzdem. Als er unter Schock stand, nichts hatte außer den Klamotten an seinem Leib, als er nicht wusste, ob sein Haus noch steht, als er sich die Augen rieb und keine Ahnung hatte, wo nun anfangen in diesem Berg aus Dreck und Schutt, rückten schon die ersten Arbeiter mit schweren Maschinen an. Die hatten ihre Baustellen liegen gelassen und schoben den Schutt zur Seite. "Wahnsinn", sagt Fuhrmann. "Die haben wochenlang 24 Stunden am Stück gearbeitet."
Er hat dann aber auch ziemlich schnell zu den Inhabern dieser Baufirmen gesagt: "Ihr müsst und sollt Geld verdienen, ab jetzt könnt ihr wieder Rechnungen schreiben." Fuhrmann sagt, er brauche Hilfe, wahrscheinlich über viele Jahre, aber er möchte diese Hilfe mit Geld belohnen. Dann ist das genau genommen kein prosoziales Verhalten mehr, erst recht kein Altruismus, sondern bezahlte Arbeit. Und Fuhrmann ist der Auftraggeber.
Er erzählt, er habe schlechte Erfahrungen gemacht. "Leute kamen hierher, sagten, sie wollten helfen, und fingen dann an, uns zu erklären, wie es im Ahrtal weitergehen müsse." Fuhrmann spricht von "Hausbesetzermentalität". Es gab Fälle, da machte er aus Helfern Auftragnehmer, aber die verstanden nicht, dass sie nun in einer anderen Rolle waren. Fuhrmann: "Wenn ich für einen Auftrag bezahle, kann ich klarer Forderungen stellen und Erwartungen formulieren." Der Bürgermeister hat sich von einigen dieser ehemaligen Helfer getrennt.
Zwischen den Helfenden und den Menschen, denen geholfen wird, besteht eine komplexe Beziehung. Das hat damit zu tun, dass einer etwas geben möchte und dabei meistens bestimmt, was und wie viel er gibt. Die anderen können nur nehmen und fast nichts bestimmen. Das schafft ein Machtgefälle.
"Wir erkennen bei denjenigen, denen geholfen wird, einen Verlust von Selbstkontrolle", sagt Ulrich Wagner, Professor für Psychologie an der Universität Marburg. Die Empfänger von Spenden sollen dankbar sein. Aber vielleicht hätten sie statt roter lieber schwarze Dachziegel gehabt. Vielleicht hätten sie sich selbst andere Kleidung ausgesucht. Ulrich Wagner: "Je länger die Hilfe andauert, desto unangenehmer kann sich das Machtgefälle anfühlen."
Es gibt zwei Wege, mit diesem Machtgefälle umzugehen. Der eine führt hinaus. Der andere noch tiefer hinein. Den ersten Weg geht der Bürgermeister Rüdiger Fuhrmann, indem er für die Gemeinde "Sponsoring" weitgehend ablehnt. Und auch an der Kirche von Altenahr stoppt gleich am Eingang ein Zettel die Spender: "Ohne vorherige Anfrage im Pfarrbüro keine weiteren Sachspenden in der Kirche ablegen!" Die Gemeindereferentin erzählt, neulich habe eine Frau angerufen und Gardinen angeboten. Als die Referentin sagte, Gardinen würden im Moment nicht gebraucht, sei die Frau wütend geworden. Sie werde bei der Ministerpräsidentin anrufen und über die undankbaren Menschen im Ahrtal berichten. Für die Helfenden ist das manchmal schwer zu akzeptieren: Das Ablehnen der Hilfe ist ein Weg, wieder die Kontrolle zu gewinnen.

Manchmal ist die Hilflosigkeit aber so groß, dass Neinsagen nicht in Frage kommt. "Wir kennen das vor allem aus der Flüchtlingshilfe", sagt der Psychologe Ulrich Wagner. "Diejenigen, die betreuen, nehmen ihren Schützlingen alle Behördengänge ab und bevormunden sie." Das ist der zweite Weg. Er führt in immer größere Abhängigkeit und Unselbstständigkeit.
Rüdiger Fuhrmann beschreitet konsequent den ersten Weg und fürchtet den zweiten. Deshalb spricht er lange über den Ortsteil Altenburg. Altenburg, nur zwei Windungen der Ahr vom Ort Altenahr entfernt, wurde von der Flut fast fortgespült. 95 Prozent der Häuser sind beschädigt oder existieren gar nicht mehr. In Altenburg steht ein Zelt, in dem sich die Bewohner zum Essen treffen. Der Ausnahmezustand ist dort zum Dauerzustand geworden.
Rüdiger Fuhrmann sagt oft Sätze, die hart klingen, zum Beispiel diesen: "Wir haben uns Wochen und Monate um alles gekümmert. Und manche haben sich dann selbst um gar nichts mehr gekümmert." Fuhrmann kennt die einzelnen Schicksale der Menschen im Dorf. Das Schicksal der Gemeinde ist ihm wichtiger.
Und zum Blick auf die gesamte Gemeinde gehört, dass es lokale Getränkehändler, Restaurantbesitzer, Kioske und Kaufhallen mit dem Neuanfang noch viel schwerer haben, wenn im Tal Essen und Trinken gratis angeboten werden. Hilfe kann also gleichzeitig beides sein. Für die einen gut, für die anderen geschäftsschädigend.
IV. Ein Stammtisch der Hilflosen
Anneliese hat kaum den Mund aufgemacht, da geht Marie-Luise dazwischen: "Ach, Anneliese, jetzt fang nicht an von der Flut zu erzählen, dann bin ich wieder den ganzen Tag fertig." Anneliese schweigt. Sie wird später von der Flut erzählen. Die beiden Frauen sitzen zur Mittagszeit im Versorgungszelt von Altenburg. Mit am Tisch sitzen noch Herbert, Raimund und Heinz. Anneliese: "Früher habe ich immer Heinzi zu ihm gesagt." Die fünf kennen sich noch aus Kindertagen.
Jetzt sind sie alle über 70, und keiner wohnt mehr in Altenburg. Wo Raimunds Haus stand, ist jetzt ein Loch, er will wieder aufbauen, "vielleicht in ein bis zwei Jahren". Herbert renoviert schon und meint, dass er in ein paar Monaten wieder einziehen kann. Annelieses Haus steht noch, aber sie möchte nicht dorthin zurück. "Zu viele schlimme Erinnerungen." Sie wohnen nun bei Verwandten, in einem Tiny House, in einer Übergangswohnung, zum Teil viele Kilometer entfernt. Aber jeden Tag fahren sie nach Altenburg und treffen sich im Versorgungszelt. Sie haben ein Schild in die Mitte des Tisches gestellt. Darauf steht: "Stammtisch".
Es wirkt ein wenig wie ein Stammtisch der Hilfsbedürftigen. Vielleicht liegt das daran, dass sie alt sind und nicht mehr so viel Kraft haben, sich selbst zu helfen. Auch an der Gemeinschaft, die sie bilden. Sie haben ihre Heimat verloren und – weil nichts anderes übrig blieb – ein Zelt als Ersatz auserkoren. Das Zelt ist groß, es gibt Gulasch oder Curry mit Reis, Getränke. In den Regalen liegen Waschmittel, Seife, Batterien und Kinderspielzeug.
Neben dem Zelt steht ein Bus, der zu einem Café umgebaut wurde. Kaffee, Kuchen gratis und gute Gespräche obendrauf. Der Bus gehört zum Hoffnungswerk, einem gemeinnützigen Verein. An diesem Tag bedient der 20-jährige Samuel Huber die Kaffeemaschine. Samuel hatte ein paar Monate Zeit zwischen Abitur und "Weiß noch nicht genau" und kam ins Ahrtal zum Helfen. Er wohnt in einer Helfer-WG, in einem von der Flut durchspülten Hotel. Samuel unterhält sich zur Mittagszeit lange mit dem 80-jährigen Hans. Es geht um Elektroautos und Investitionen in Brandenburg. Hans ist gegen das alles, Samuel hat ein paar Argumente dafür.
Samuel weiß, dass Hans‘ Frau in der Flutnacht gestorben ist. "Wir haben noch nie darüber geredet", sagt er später. "Aber es gab eine Zeit im Winter, da ist Hans um 12 Uhr zum Versorgungszelt gekommen, danach zum Kaffeebus und blieb bis 17 Uhr. Jetzt ist es schon besser geworden, er kommt wieder allein klar."
Manchmal ist es lustig im Versorgungszelt. Zum Beispiel, wenn Anneliese erzählt, wie sie von der Bundeswehr mit dem Helikopter evakuiert wurde. Sie wurde an einem Seil durch die Luft gezogen, landete im Helikopter und stolperte. "Da lag ich dann vor einem General mit seinen Orden und Gebamsel. Na, das war ein Gefühl." Es ist aber auch oft traurig. Und es ist unmöglich, Zeit im Versorgungszelt zu verbringen, mit Anneliese, Heinz, Hans und den anderen zu sprechen, ohne Mitgefühl zu verspüren.

Lange Zeit galt Mitgefühl als etwas, wofür Religionen zuständig sind. Inzwischen ist die Mehrheit der Wissenschaftler*innen der Meinung, dass die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen, zur Grundausstattung des Menschen gehört. Bereits Einjährige versuchen Trost zu spenden, wenn noch kleinere Babys weinen. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer unterscheidet Empathie von Mitgefühl. Empathie bedeutet, dass man mit jemand anderem mitschwingt, sich einfühlt – und es dann dabei belässt. Wir sehen die Bilder von der Flut, und wir sind betroffen, uns kommen die Tränen. Mitgefühl geht noch einen Schritt weiter. Man nimmt das Leid des anderen wahr, fühlt sich ein und verspürt den Wunsch, zu helfen.
Manchmal braucht es dafür einen Schubs. Hermann Freibeuter von den Helfenden aus Dormagen zum Beispiel wollte schon bei der Oderflut vor einigen Jahren helfen und tat es nicht. Nach der Flut im Ahrtal gelangte der Hilferuf direkt per Whatsapp auf sein Handy. "Ich konnte einfach nicht mehr länger nur zusehen."
Beim Mitgefühl werden, wie Singer in einer großen Studie herausfand, die Netzwerke im Gehirn angesprochen, die auch beim Anblick einer geliebten Person, etwa des eigenen Kindes, aktiviert werden. Mitgefühl habe mit Fürsorge, Wärme und Liebe zu tun. Es entspringe einem evolutionär sehr früh angelegten Wunsch im Menschen, sich um andere zu kümmern. Dieser Wunsch komme dem Altruismus sehr nahe.
Nach der Flut im Tal wollten sehr viele Menschen aus ganz Deutschland sehr viel helfen. Manche kommen immer noch. Weil Menschen mit der Fähigkeit zum Mitgefühl geboren werden und damit auch mit dem Drang zum Helfen, möchten sie das Ahrtal nicht allein lassen. Sie können es gar nicht. Sie werden Anneliese, Heinz, Herbert, Marie-Luise, Raimund und Hans aus Altenburg helfen, bis diese sagen: Wir haben genug. Und vielleicht wird das nie geschehen.
Jeden Tag nach dem Mittagessen im Versorgungszelt geht Anneliese, die mit vollem Namen Anneliese Fussel heißt und 86 Jahre alt ist, eine Ahrschleife zu Fuß nach Altenahr, zum Friedhof der Gemeinde. Dort liegt ihr Mann begraben, er starb kurz vor der Flut, und obwohl der Friedhof vom Wasser verwüstet wurde, blieb der Sarg des Mannes unversehrt.
Anneliese Fussel gießt die Blumen, richtet Blätter und Blüten. Sie spricht immer ein paar Sätze mit dem Verstorbenen. Von der Flut, sagt Anneliese Fussel, habe sie ihrem Mann nichts erzählt. Sie glaubt, es würde seiner Seele zu sehr weh tun.
V. Was vom Helfen bleibt
Das Ahrtal heißt auch "Tal der roten Traube". Wegen des Weins. Nach der Flut wussten die Winzer nicht, ob es ihnen bis zur Lese im Herbst gelingen würde, die überfluteten Keller trockenzulegen und die zerstörten Maschinen zu ersetzen. Es gelang ihnen, weil viele Menschen halfen. Und als dann die Winzer, ihre Angestellten und die freiwilligen Helfer an den Hängen standen, mit Scherchen in den Händen, und die Trauben schnitten, erzählte Britta Stodden von ihrer Lektion über das Helfen.
Das Weingut Jean Stodden hat einen sehr guten Ruf, große Gewächse, andere Winzer sagen, das Weingut Stodden sei das beste im Tal. Britta Stodden sagte, sie habe etwas über Mitgefühl gelernt. "Ich bin bei den Hochwassern an der Oder oder in Bayern nicht auf die Idee gekommen, dorthin zu fahren und zu helfen." Nun, wo sie selbst so viel Unterstützung erhalten habe, sehe sie das anders. "Ich weiß jetzt, wie gut Hilfe tut."
Vielleicht ist das Beste am Helfen: Es lässt die Menschen an das Gute glauben, es zerstreut Misstrauen und Zorn. Es pflanzt sich fort.
TV-Dokumentation
Wie erlebt man eine Katastrophe, die man gerade so überlebt hat? Dieser Frage geht ein Team des TV-Senders Vox auf den Grund. Die Dokumentation "Nach der Flut - Ein Jahr zwischen Zerstörung und Zuversicht" läuft am 9. Juli im TV und ist anschließend beim Streaminganbieter RTL+ in der Mediathek zu sehen.
Der Ortsbürgermeister Rüdiger Fuhrmann erzählt zwar auch von schlechten Erfahrungen, sagt aber am Ende: "Vor der Flut habe ich gedacht, wir sind gesellschaftlich auf einem falschen Weg. Das glaube ich jetzt nicht mehr. Wenn es eng wird, halten wir zusammen."
Im Dormagener Helferkreis waren zwischenzeitlich 70 Personen organisiert. Es sind hilfsbereite Menschen, nicht nur für das Ahrtal. Als im Februar 2022 Flüchtende aus der Ukraine in Deutschland ankamen, bat die Stadtverwaltung den Helferkreis um Unterstützung bei der Eröffnung eines Willkommenszentrums. Und als die Dormagener einen Hilfstransport nach Polen schickten, kam der Weinlokalbesitzer Wilfried Laufer, um beim Packen zu helfen. Er, der so viel Unterstützung bekommen hat, half nun selbst.
Das Ahrtal braucht Hilfe. Die Menschen dort benötigen gerade keine Gardinen, nicht so viel Kleidung, vielleicht noch einen Treffpunkt wie ein Versorgungszelt. Die Menschen dürfen wieder häufiger Nein sagen, wenn ihnen Hilfe angeboten wird. Und niemand sollte ihnen deswegen böse sein. "Es ist ein Ablösungsprozess wie in der Pubertät", sagt die Ärztin Katharina Scharping. "Dann stößt man den Helfer vielleicht etwas rabiat von sich."
"Ich brauche vor allem Personal", sagt Rüdiger Fuhrmann. Der Wiederaufbauplan allein seiner Ortsgemeinde sieht rund 125 Maßnahmen im Wert von 145 Millionen Euro vor. "Jedes Projekt in so einer Größenordnung hätte doch normalerweise einen ganzen Planungsstab."
Das Ahrtal braucht Planer, Architektinnen, Klempner, Dachdeckerinnen, Fensterbauer, Fliesenlegerinnen. Es braucht Fachleute, die den traumatisierten Menschen wieder Halt geben. Es braucht Ideen, auch Utopien, es braucht keine Bevormundung, aber weiterhin Mitgefühl. Und Hoffnung.
Dieser Text erschien zunächst im Juli 2022