GEO: Sie behaupten, Pflanzen seien lernfähig. Welche hat besonders viel auf dem Kasten?
Monica Gagliano: Zum Beispiel die unscheinbare Erbse. Ein Großteil meiner Forschung dreht sich um diese Nutzpflanze. Man kann die Erbse trainieren, fast wie einen Hund.
Und was bringen Sie ihr bei?
Kollegen und ich haben junge Erbsen bei einem Experiment immer wieder mit einer blauen Lichtquelle bestrahlt – blaues Licht ist Energie, und Energie ist die entscheidende Voraussetzung für die Fotosynthese, mit deren Hilfe die Erbsenpflanzen Zucker aufbauen. Ihre Blätter richteten sich in dem sonst abgedunkelten Raum nach der Quelle aus.
Um möglichst viel Energie aufzunehmen?
Je besser die Position des Blattgrüns, desto höher die Ausbeute. Erlosch das Blaulicht, so brachten die Erbsen ihre Blätter nach und nach in eine neutrale Stellung. Im zweiten Teil des Versuchs kombinierten wir den Lichtstrahler mit einem Ventilator, der die Gewächse aus der gleichen Richtung anblies. Und zwar immer vor der Lichtgabe. Die Frage war: Was würde passieren, wenn wir die Erbsen in der dritten Phase nur mit dem Ventilator manipulierten? Hatten sie sich gemerkt, dass Licht auf den Luftstrom folgte? Richteten sie ihre Blätter so aus, als erwarteten sie das Licht?
Was taten sie?
Sie brachten ihre Blätter in die ideale Lage, wenn sie nur den Luftstrom registrierten. Sie hatten etwas gelernt. Wie die Hunde des russischen Forschers Pawlow, der mit einem Experiment bewiesen hatte, dass sich Vierbeiner konditionieren lassen. Konditionierung bedeutet: Lebewesen setzen zwei völlig unterschiedliche Reize in Beziehung, und sie können diesen Zusammenhang abspeichern. Glocke gleich Futter, Ventilator gleich Energie. Das heißt: Sie lernen. Bei Pflanzen scheint diese Fähigkeit verbreitet zu sein.
Wie kommen Sie darauf?
Mimosen etwa lernen auch. Jeder kennt ihre spektakuläre Reaktion: Bei Gefahr rollt sie schnell ihre Blätter zusammen, das Ergebnis sieht unattraktiv aus und schreckt Fressfeinde ab. Ihr Problem: Der Trick kostet viel Energie, daher muss sie ihn sparsam anwenden – also nicht bei jedem Windhauch. Wir wollten wissen, wie junge Mimosen auf einen unbekannten, harmlosen Reiz reagieren. Dafür bauten wir eine Gerätschaft, die eingetopfte Mimosen 15 Zentimeter in die Höhe hievte und dann auf eine weiche Unterlage fallen ließ, immer wieder. Zu Beginn falteten die Pflanzen ihr Blattwerk zusammen, aber irgendwann ließen es die meisten von ihnen bleiben.
Was Sie vermutlich als Lerneffekt deuten.
Ja, als was sonst? Als wir das Experiment nach ein paar Tagen Pause wiederholten, ließ ein großer Teil der Pflanzen die Blätter geöffnet. Sie hatten sich gemerkt: Stürzen bedeutet keine Gefahr.
Zweifeln Sie gar nicht an Ihren Ergebnissen?
Zweifel begleiten meine Arbeit als Wissenschaftlerin, es ist gut, sich täglich zu hinterfragen. Aber die Daten sind reproduzierbar.

Aber es hat ja Gründe, warum viele Forscher Lernfähigkeit nur Tieren zuschreiben. Zum Beispiel, weil jene viel komplexeren Situationen ausgesetzt sind als Pflanzen.
Die Herausforderung, einen Weg oder seinen Partner zu finden, einen Gegner einzuschätzen oder bei Gefahr das Weite zu suchen – all das gehört zum Alltag vieler Tiere, und da ist Lernen vorteilhaft. Gewächse rennen nicht durch die Gegend. Trotzdem sind sie darauf angewiesen, zu lernen. Einige Baumarten speichern verheerende Ereignisse wie Dürren oder Insektenbefall ab, um bei Wiederholung rascher agieren zu können. Auch wer nicht weglaufen kann, muss Informationen aus der Umwelt aufnehmen, festhalten und verarbeiten. Und dann handeln.
Was wir Menschen kaum wahrnehmen.
Erbsen, Eichen oder Kakteen reagieren auf einen Reiz weit langsamer als eine Spitzmaus. Sie existieren in ihrer eigenen Zeit. Aber diese Gemächlichkeit besagt nicht, dass Pflanzen minderwertig oder simpel wären. Aus der Perspektive einer Bakterie führt auch der Mensch ein ungeheuer langatmiges Dasein. Was ebenfalls nicht bedeutet, dass Homo sapiens schlicht gestrickt wäre.
Wie kann sich eine Mimose ohne Gehirn irgendetwas merken?
Die Mehrzahl der Lebewesen auf diesem Planeten besitzt kein Hirn. Hirn ist kein Muss fürs Überleben. Und auch in vielen Lebenssituationen benötigen selbst wir Menschen das Denkorgan gar nicht. So trifft unser Nervensystem Entscheidungen, ohne dass wir davon etwas merken. Oder es speichert Informationen, etwa bei Bewegungen.
Wir Säugetiere verfügen über ein hochkomplexes Nervensystem. Eine Mimose aber nicht.
Das ist richtig. Aber im Pflanzengewebe zirkulieren die gleichen Moleküle, die in tierischen Nervenzellen die Signalübertragung ermöglichen. Man nennt sie im Tierreich Neurotransmitter. Aber es gibt diese Botenstoffe auch bei Pflanzen. Zum Beispiel Dopamin oder Serotonin. Und es pulst elektrischer Strom durch das Blattwerk einer Mimose – in tierischen Hirnen und Nerven dient er dem Transfer von Informationen. Ob Gewächse Botenstoffe und Strom für einen ähnlichen Zweck nutzen, ist bisher kaum bekannt.
Und auch nicht, wie die Speicherung von Informationen abläuft?
Es existiert dafür zumindest keine zentrale Instanz wie im Gehirn eines Tieres. Womöglich dienen Komponenten der Erbsubstanz als Datenspeicher. Unsere Forschung ist noch nicht weit genug. Sicher ist: Pflanzen sind komplex, sie erinnern sich nicht nur, sie treffen auch Entscheidungen, erkennen sich, helfen anderen Gewächsen. Vielleicht geben sie sogar ihr Wissen weiter.
So, wie Sie das beschreiben, denke ich an einen Schimpansen – und nicht an eine Pflanze.
Sie sind eben ein Mensch, und der schaut mit Säugetieraugen auf die Welt. Für Wesen, die uns ähneln, bringen wir Verständnis auf.
Und geraten bei Gewächsen an Grenzen.
Sie sind zu weit weg von unserer evolutionären Abstammungslinie. Kein Wunder, dass wir sie seit jeher als Objekte einstufen. Als grüne Kulisse, Nahrung oder Baumaterial. Aber zu selten als eigenständige Kreaturen mit faszinierenden Fertigkeiten. Grundschüler merken sich die Namen von Tieren weit besser als die von Gewächsen.
Sie und Ihre Mitstreiter haben einen schweren Stand, weil man so wenig darüber weiß, wie Gewächse ihre angeblichen Talente umsetzen.
Wir sind geneigt, in Pflanzen die gleichen physiologischen Merkmale zu suchen, die tierische Wesen aufweisen. Finden wir sie nicht – wie etwa ein Nervensystem –, schlussfolgern wir: Die Übertragung von Signalen kann nur schwerlich stattfinden. Argumentieren wir mal logisch am Beispiel der Merkfähigkeit: Irgendwo muss es einen Ort für die Speicherung von Informationen geben. Oder ein System. Eine durchschnittliche Pflanze hat rund 30 unterschiedliche Sensoren, es kommen jede Menge Informationen zusammen. Zum Beispiel kann jedes Gewächs die Richtung der Schwerkraft wahrnehmen.
Das leuchtet ein. Sonst würden Pinie und Zuckerrohr nicht so geradlinig wachsen.
Es geht noch komplexer. Wurzeln arbeiten wie hochsensible Detektoren, die Gifte, Wasser und Nährstoffe registrieren. Blätter erkennen Berührungen. Sie enthalten Zellen, die Duftstoffe analysieren. Und solche, die Licht erfassen. Anhand von Lichtreflexen kann eine Bananenstaude differenzieren, ob neben ihr ein Felsen aufragt. Oder eine konkurrierende Pflanze emporstrebt, die ihr das Sonnenlicht stehlen könnte. Sollte das der Fall sein, würde die Banane wohl mehr Energie in ein schnelleres Wachstum investieren. Also eine Entscheidung treffen, die auf Informationen beruht. Und Gewächse lauschen ihre Umgebung ab.
Ohne Ohren?
Vergessen Sie Ihre Ohren. Ton lässt sich beschreiben als Berührung über die Distanz – Schallwellen haben eine mechanische Wirkung. Man benötigt einen Apparat, der ihre Schwingungen aufnimmt. Bei uns ist es das Trommelfell. Bei Pflanzen genügt dafür womöglich das Zellgewebe.

Was könnten Gewächse davon haben, dass sie Geräusche vernehmen?
Sound ist ein universelles Mittel für die Weitergabe von Informationen über größere Entfernungen. Und wird in der gesamten belebten Welt von vielen Arten genutzt. Israelische Forscher haben gerade nachgewiesen, dass Blütenpflanzen die Nektarkonzentration erhöhen, wenn Bienen in der Nä-he sind – auch dann, wenn man ihnen das Summen der Insekten nur vorspielt. Die Geräusche signalisieren dem Gewächs: Bestäuber sind in Reichweite, lock sie an! Sound ist ein wichtiges Medium der Flora, sogar Wurzelspitzen können Töne erfassen.
Was gibt es dort Spannendes zu belauschen?
Das Naheliegende: fließendes Wasser, Lebenselixier aller Gewächse. Bei einem Experiment ließ ich Wasser durch Plastikröhren strömen. Und stellte fest, dass die Wurzelspitzen in Richtung der Röhren strebten, obwohl sie außer den Geräuschen nichts wahrnehmen konnten, was auf Wasser hindeutete. Wie genau sie das Rauschen erfassen, wissen wir nicht. Wir wissen aber: Geräusche sind auch bedeutsam für den Austausch untereinander.
Also für eine Art Kommunikation?
In einem meiner Versuche wuchsen junge Chilipflanzen in Behältern auf. Sie bekamen Licht und Wasser, aber waren sonst von der Umwelt abgeschirmt. Ich dokumentierte ihre Wachstumsraten. In einen Teil der Behälter stellte ich in die Mitte kleine Boxen mit einem Fenchel. Die Boxen waren ebenfalls abgeschottet. Es gab keinen Sichtkontakt zu den Chilis, Duftmoleküle konnten die Barriere nicht passieren, und Berührungen mit dem Fenchel waren ausgeschlossen.
Ein Fenchel in Isolationshaft?
Der Fenchel ist bekannt für seine aggressive Natur – das Gewächs sondert Stoffe ab, welche die pflanzliche Konkurrenz in seiner Nachbarschaft klein halten oder sogar Keimlinge abtöten kann. Chilis, die neben der Fenchel-Box aufwuchsen, strebten schneller in die Höhe, gediehen kräftiger als solche ohne die Gegenwart des Fenchels. Als wollten sie möglichst rasch an Robustheit gewinnen. Womöglich, um sich zu wappnen.
Wenn der Fenchel abgeschirmt war, wie hätten die Chilipflanzen ihn registrieren sollen?
Durch Geräusche vielleicht. Denn den Austausch von Tönen unterbanden die Behälter nicht. Und auch nicht den von manchen elektromagnetischen Wellen. Für mich öffnete sich mit diesem Experiment eine Tür: Pflanzen könnten Botschaften versenden. Auch über Artgrenzen hinweg. Womöglich reichen sie so Informationen weiter, geben sich zu erkennen, Freund und Feind. In einer aktuellen Untersuchung haben Botaniker in Kanada belegt, wie Bäume zuerst die Sprösslinge der eigenen Spezies über das Wurzelwerk mit Nährstoffen versorgen. Waren die eigenen Nachkommen verköstigt, bekamen die jungen Bäume anderer Arten etwas ab. Möglicherweise ein Hinweis auf ein soziales Miteinander.
Eine steile These. Einen Beweis dafür hat noch niemand gefunden.
Natürlich ist das schwer nachzuweisen. Wir arbeiten daran. Machen wir uns mit der Tatsache vertraut, dass wir es mit einer fremdartigen Welt zu tun haben, die es zu entdecken gilt. Wir wissen auch nichts über Schmerz bei Pflanzen. Und wir können derzeit nur vermuten, dass Lärm eine Wirkung auf Gewächse hat. Wenn wir recht behalten, hätte das enorme Konsequenzen für unsere Sicht auf das Miteinander von Pflanzen und Menschen. Aber immerhin wächst das Bewusstsein für die Empfindsamkeit der Flora. In der Schweiz etwa wird sogar darüber diskutiert, die Würde der Gewächse in die Verfassung aufzunehmen. Schließlich verdanken wir ihnen unser Überleben: Wir atmen Kohlendioxid aus, Pflanzen nehmen das Gas auf und fabrizieren daraus Sauerstoff. Wir sind also mit den Gewächsen in einem Kreislauf verbunden.
In Ihrem Buch beschreiben Sie dieses Miteinander. Aber auch Begegnungen mit Schamanen, Ihre spirituelle Verbundenheit mit Bäumen. Das ist für eine Naturwissenschaftlerin ungewöhnlich.
Sie wollen andeuten, ich könnte damit meinen Ruf als Forscherin aufs Spiel setzen?
Sie könnten als Fantastin und Naturschwärmerin angesehen werden.
Ich habe lange überlegt, wie ich dieses Buch schreiben soll. Am Ende habe ich mich entschieden, es genau so zu verfassen. Viele der darin festgehaltenen Erlebnisse haben in mir die Intuition befeuert. Und die ist für meine Forschung wichtig. Ohne sie käme ich nicht auf neue Ideen und abgefahrene Perspektiven. Intuition war auch für Charles Darwin eine Voraussetzung wissenschaftlichen Denkens. Er war überzeugt davon, dass Pflanzen eine gewisse Form von Intelligenz aufweisen, die vor allem in ihren Wurzeln steckt – Darwin zufolge eine Art Gehirn. Niemand nahm ihm das übel. Und auch nicht, dass er in Gewächshäusern seinen stummen Zuhörern Musik vorspielte.