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Ökologische Transformation Billige Energie, billiges Fleisch: Der Krieg in der Ukraine entlarvt unsere Lebenslügen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei der Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine
© IMAGO / Bildgehege
Jahrzehntelang hat die bundesrepublikanische Politik dringend erforderliche Transformationen verschleppt und verzögert. Jetzt muss es schnell gehen

Russlands Krieg in der Ukraine markiert einen Wendepunkt. Da sind sich mal alle einig. Der Politologe Herfried Münkler erklärte, geopolitisch und strategisch sitze kein Stein mehr, wo er einmal war. Die Nachkriegs-Weltordnung wankt. Von einer Neuauflage des Kalten Krieges ist die Rede. Auch die Wirtschaftswelt ist alarmiert. Der Blackrock-Chef Larry Fink, der über 10.000 Milliarden Dollar Vermögen verwaltet, spricht schon von einem Ende der Globalisierung. Bundeskanzler Olaf Scholz, sonst nicht für große Worte bekannt, fasste die Lage mit seiner "Zeitenwende" vielleicht besser zusammen, als er ahnte.

Schaut man sich aber um im Land, ergibt sich eine eigenartige Diskrepanz. Es gibt immer noch Aprikosenmarmelade in den Regalen der Supermärkte. Und der Sprit ist wieder billiger. Spuren einer Zeitenwende sucht man vergebens.

Noch. Denn es gibt nun kein Zurück mehr.

Der Krieg in der Ukraine hat auf tragische Weise das Wunschdenken entlarvt, mit billigen fossilen Energien aus Russland lasse sich ein nachhaltiges Wachstum befeuern. Energiepolitisch stehen wir heute vor einem Scherbenhaufen. Die erneuerbaren Energien, von Christian Lindner ebenso überraschend wie zutreffend "Freiheitsenergien" genannt, führen immer noch ein Nischendasein. Und Wasserstofftechnologien sind noch nicht marktreif.

Seit Jahrzehnten fordern Umweltverbände und Wissenschaftler*innen die Priorisierung der Erneuerbaren. Jetzt steht die Regierung mit fast leeren Händen da. Und steckt dazu in dem herzzerreißenden Dilemma, an ein verbrecherisches Regime weiterhin Hunderte Millionen Euro täglich zu überweisen.

Man kann nun einwenden, dass die Argumentation der Klimaforschung eine andere war. Unrichtig wird sie dadurch nicht. Im Gegenteil.

Hunger, Krieg und Migration werden sich weitaus langsamer entfalten als die Grauen des Krieges in der Ukraine. Die komplexen Wechselwirkungen, vor allem mit dem ebenso katastrophalen Schwund der Artenvielfalt, sind schwerer zu erfassen und zu verstehen als Massaker und Raketeneinschläge. Und doch werden Milliarden Menschen betroffen sein, und sind es zum Teil schon heute. Das zeigt nicht zuletzt der jüngste, Sechste Sachstandsbericht des IPCC.

Der Krieg muss die ökologische Transformation beschleunigen

Ähnliche Parallelen gibt es bei einem anderen Thema, das Klimaforschung, Umweltbewegte und Tierrechtler*innen seit Jahrzehnten anmahnen: Wir essen zu viel billiges Fleisch. Weit mehr als die Hälfte des Weizens aus der Ukraine und aus Russland landeten bislang nicht auf unseren Tellern, sondern in den Futtertrögen von Mast- und Milchvieh. Wer jetzt auf tierische Produkte verzichtet, schont nicht nur die Tiere und das Klima – sondern sorgt auch mit dafür, dass Natur- und Ackerflächen entlastet werden. Vegetarisch-vegane Lebensmittel sind, frei nach Lindner, Freiheitslebensmittel. Sie machen uns von Importen aus Russland unabhängiger. Und befördern auch noch die Artenvielfalt und die Bodengesundheit vor Ort.

Es ist kein Zufall, dass die seit Jahrzehnten geforderten Transformationen in der Energie- und in der Landwirtschaft in der aktuellen Krise dringender denn je gebraucht werden: Sie stehen nämlich für einen hohen Grad an enkeltauglicher Unabhängigkeit. Der Krieg in der Ukraine muss und wird sie rasant beschleunigen.

Vor allem die billigen fossilen Energien, das zeigt sich jetzt mit brutaler Deutlichkeit, waren ein tragischer Irrweg. Um nicht zu sagen: eine bundesrepublikanische Lebenslüge. Der Fehler muss jetzt eingestanden und korrigiert werden. Auch wenn es wehtut. Noch zögert der Bundeskanzler zwar, seine "Zeitenwende" allgemeinverständlich zu erklären. Also so, dass klar wird: Es ist eine heilsame Zumutung für uns alle. Aber wir schaffen das.

Wer jetzt noch meint, Tempo 100 auf der Autobahn mit einer 14 Grad kühlen Wohnung vergleichen zu müssen, hat jedenfalls nichts verstanden. Und will es vermutlich auch nicht.

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