
GEO: Ihre These lautet: Unsere Esskultur braucht eine "gastrosophische Revolution". Bevor wir zur Revolution kommen - was ist denn Gastrosophie?
Lemke: Das ist die Lehre von der Weisheit des Essens. Als Gastrosoph möchte ich Sie mit einem philosophischen Gefühl dafür ausstatten, dass Ihr Essen keine Privatangelegenheit ist, sondern ein politischer Akt.
Tun Sie uns da nicht ein bisschen viel auf?
Wer isst, schlägt sich nicht bloß den Bauch voll, er stellt vielerlei Weltbezüge her: Landeigentum, Klimawandel, Gentechnik, Tierethik, Alltagskultur, Gesundheit. Die Gastrosophie führt all diese Felder auf ihre gemeinsame Quelle zurück: das tägliche Essen.
Darf ich es mir auch einfach schmecken lassen?
Auch das! Es geht um das Kochen als eine Lebenskunst. Sobald Sie darüber sinnieren, ob Sie den Gästen vegane Entenbrust servieren oder lieber Lachsfilet auf mit Algen umwickeltem Tofu, sautiert in Orangenpfeffersaft - sobald Sie über solche Dinge ins Philosophieren kommen, sind Sie Gastrosoph.
Das klingt, als müsste ich dazu Vegetarier sein.
Viele Probleme entstehen aus unserer fantasiearmen Fleischküche: das Leid der Tiere in den Fleischfabriken, die Zerstörung der Regenwälder für den Anbau von Futterpflanzen, die prekären Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen, die Skandale in der Fleischindustrie, die Gesundheitsschäden, die wir uns durch zu viel Wurst- und Fleischkonsum zufügen.

Also müssen wir alle Veganer werden, wenn wir reinen Gewissens auf Erden wandeln wollen?
Die Veganer sind mir oft zu dogmatisch, zu lustfeindlich. Gastrosophie verbindet Politik mit Genuss. Entscheidend ist nicht moralischer Rigorismus, sondern die Verbindung von Ästhetik und Ethik, das sinnlich-sittliche Zusammenspiel von gutem Geschmack und gutem Gewissen.
Also kein Veggie Day, kein fleischloser Tag, wie ihn die Grünen uns einst verordnen wollten?
Schon Kant sah das Problem einer Ethik, die "freudenlos, finster und mürrisch ist" und so die "Tugend selbst verhasst macht". Eine Ethik, die das Fleischessen kategorisch verbietet, wird vermutlich keine breite Anhängerschaft finden.
Mit einem leckeren Burger in der Hand kann sich der Gastrosoph also nicht sehen lassen?
Ich esse auch mal Fleisch oder Fast Food. Aber ich erhoffe mir ein langsames Absterben jener kulinarischen Tradition, die stumpf auf Fleisch setzt. Nur so können wir die Menschheit in ihrer kulturellen Entwicklung voranbringen.
Wie soll sie gelingen, die Revolution unserer Esskultur?
Mit kulinarischer Neugier! Gastrosophische Forschungsfragen wären etwa: Was wird aus Knollensellerie, wenn man ihn vakuumiert oder bei Niedrigtemperatur gart? Was müssen wir mit Hirtentäschel und Giersch anstellen, um die Welt zu verändern? Wer mit Artischocke oder Süßdolde umzugehen weiß, braucht keine Kalbsknochen, um Kraft in einen Fond zu bekommen.
Verstehen wir richtig: Fleischessen ist eine schlechte Angewohnheit, die wir uns abgewöhnen sollen, wie das Rauchen?
Was ist schon Fleisch? Eine kulinarische Konstruktion. Wir brauchen, um diese Lust beim Essen zu erfahren, kein Tier zu töten. Zumal wenn die Menschheit dadurch ein planetares Problem verursacht. Aber das Wunderbare ist: Wir können etwa von den Weisheiten der alt-asiatischen Küche lernen ...
Die Zukunft gehört also dem Tofu-Würstchen?
Es hat etwas Despektierliches, Tofu und Seitan zu schmähen, daraus spricht eine ideengeschichtliche Ignoranz gegenüber Hochkulturen, die sich über Jahrhunderte fleischlos ernähren - und sehr raffiniert. Fleisch? Braucht kein Mensch.

Bei uns haben Fleischersatzprodukte aber kein gutes Image.
Das stimmt nur bedingt. Noch vor wenigen Jahren hatte der durchschnittliche Supermarkt kein einziges Fleischersatzprodukt im Regal stehen. Kaum jemand wusste, wie pflanzlicher Brotaufstrich schmeckt. Inzwischen verbucht der Lebensmittelhandel rasant steigende Nachfrage nach fleischlosem Hack, Tofu-Würsten oder vegetarischem Zwiebelschmalz. Wir befinden uns schon inmitten eines epochalen Umdenkens.
Woher rührt der ausgeprägte Fleischhunger unserer Kultur?
Je dicker das Steak, desto wichtiger der Esser - das ist die Tradition, in der wir stehen. Uns wurde eingeredet, dass Fleischkonsum bedeutsam ist, weil er einst ein aristokratisches Privileg war. Das Rindersteak ist Relikt einer Herrschaftssymbolik.
Wie viel Tier können wir denn guten Gewissens essen?
Deutsche essen 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Das jedenfalls ist kein vernünftiges Maß. Wir können Tiere durchaus als Nahrungsergänzung nutzen. Ihre Haltung ist aber nur auf Flächen sinnvoll, wo entweder kein Nutzpflanzenanbau möglich ist oder Tierhaltung zur Landschaftsgestaltung dient. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird dann ein vernünftiges Maß bei weniger als einer Fleischration pro Woche liegen.
Und wer teilt das zu? Gibt es Bezugsscheine für Fleisch?
Das ist jetzt eine abwegige Diskussion. Ich würde eher diesen Aspekt betonen: dass wir Fleisch nicht wirklich brauchen. Sie haben es angesprochen – es ist wie mit dem Rauchen. Gegen das Rauchen geht der Gesetzgeber vor, mit Verboten und Strafsteuern. Ich kann mir vorstellen, dass ein Verhalten, das so viele Folgekosten verursacht, ähnlich sanktioniert wird. Wie reagieren wir auf knappe Ressourcen? Indem wir sie teurer machen.
Das heißt, Fleisch wird ein Stück Luxus.
Ja. War es ja die längste Zeit der Geschichte. Früher gab es keine Massentierhaltung, und wir sollten sie unbedingt wieder abschaffen. Fleisch ist eben ein an sich teures Produkt. Zurück also zum Sonntagsbraten.
Jetzt sind Sie aber bei nicht einem Veggie Day pro Woche, sondern bei deren sechs. Ist das realistisch?
Ja, weil unsere Ressourcen für den weltverschleißenden Konsum nicht reichen. Fleisch wird zur Nebensache.
Das Kilo Hühnerbrust vom Ökohof für 25 Euro als Gaumenfreude der wohlhabenden Schichten – sozial geht anders.
Halt! Die Ausgaben für Lebensmittel sinken in reichen Ländern seit Jahrzehnten. Nie wurde so wenig Geld für eine der wertvollsten Quellen unserer Lebensqualität ausgegeben. Die meisten zahlen lieber mehr für Motoröl als für das Salatöl, das sie sich selbst einverleiben. Je billiger das Essen, desto mehr Geld für anderen Konsum - das ist unser Wertesystem.
Dass Menschen sich über erschwingliche Lebensmittel freuen können, ist doch keine geringe Errungenschaft.
Billigware ist doch nur billig, weil sie nicht die ökologischen und sozialen Kosten spiegelt. Die sind ausgelagert, auf die Wasserrechnung oder die Krankenkassenbeiträge, die werden dem Steuerzahler oder künftigen Generationen aufgebürdet.
Es ist auch eine Frage gesellschaftlicher Prioritäten. Im Zweifel kaufen die Leute fast immer das Sonderangebot.
Stimmt, der uralte Wunschtraum vom Schlaraffenland ist Realität geworden - für einen kleinen Teil der Menschheit. Wirleben in diesem Schlaraffenland, aber auf Kosten anderer, und es wird regiert von tragischer Unvernunft. Es bleibt dabei: Die gastrosophische Revolution beginnt mit dem gerechten Preis.
Welche Rolle spielt dabei der einzelne Konsument?
Wir entscheiden. Die Käuferklasse ist sehr mächtig. Wir sind viele, und wir bestimmen über Erfolg oder Misserfolg von Produkten, Firmen, ganzen Branchen. Die Macht unserer Kaufentscheidungen ist wirksamer, als wählen zu gehen. Im Supermarkt stimmen alle kaufkräftigen Bürger über politische Angelegenheiten ab. So entscheiden wir, welche Wirtschaft wir wollen.
Wo kommt das Produkt her, ist es gesund, was sagen die Artenschützer? Können Sie verstehen, dass wir bisweilen überfordert sind von der ethisch korrekten Nahrungssuche?
Dass ich im Supermarkt die ganze Last der Informationsbeschaffung aufgebürdet bekomme: unhaltbar! Ich wünsche mir, dass ich im Regal nur korrekte Produkte finde. Dass ich bloß noch darüber nachdenken muss, was mir schmeckt. Qualitätskontrollen müssen ausgebaut werden. Da sehe ich den Gesetzgeber in der Pflicht. Für alles andere können wir selbst sorgen.
Kaum vier Prozent der Deutschen sind Vegetarier. Kann es sein, dass Ihrer Idee etwas Wunschdenken innewohnt?
Nein! Wenn man sieht, wie in wenigen Jahrzehnten jene gesellschaftlichen Kräfte herangewachsen sind, denen die Zukunft eines ethisch guten Essens nicht als Utopie erscheint, wie sich eine blühende Alternativkultur entwickelt hat: Da tut sich viel!
Welche gesellschaftlichen Kräfte meinen Sie?
Etwa die Slow-Food-Bewegung. Öko, Bio, Fairtrade. Oder Selbsternte-Angebote, Biokisten, Mitkochzentralen, solidarische Landwirtschaft, Urban Gardening. Getragen von Menschen, die sich der gastrosophischen Revolution verpflichtet fühlen.
Beteiligen Sie sich selbst an solchen Projekten?
Ich bin Teil eines Urban-Gardening-Projekts im Hamburger Karoviertel. Es heißt "Keimzelle".
Gärtnern als Politik? Oder eher als Politik-Ersatz? Ist Urban Gardening nicht ein Hobby romantischer Städter?
Im öffentlichen Raum zu gärtnern ist doch konkrete Stadtteilpolitik. Wir wollen Gärten sehen, wo heute Parkplätze sind. Urban Gardening ist aber auch avantgardistische Lebens- kunst, und es ist eine internationale Bewegung. Sogar Michelle Obama, die Frau des mächtigsten Mannes der Welt, legt in Washington zusammen mit Schülern Gemüsebeete vor dem Weißen Haus an.
Ein schönes Symbol. Den meisten von uns fehlt aber leider die Zeit für landwirtschaftliche Nebentätigkeiten.
Für eine kommende Gesellschaft wünsche ich mir deshalb neue Arbeitsmodelle. Jeder soll sich das Leben so einrichten können, dass er Zeit hat, einen Teil seiner Nahrung selbst zu produzieren. Es wurden viele konkrete Alternativen entwickelt, für die müssen wir Platz schaffen in unserem Leben. Auch zeitlich.
Kochshows sind beliebt wie nie. Millionen Zuschauer in Deutschland ergötzen sich daran. Ein Signal der Hoffnung?
Die Scheinwelt der TV-Köchelei ist ein Kontrastprogramm zur Wirklichkeit des Küchenalltags. Köche wie Jamie Oliver oder Tim Mälzer sind zu bildungsbürgerlichen Popstars geworden. Spitzensportler in ihrer Disziplin, da macht das Zuschauen Spaß. Wie bei Sportsendungen kann so jeder auf angenehm-untätige Weise in den Genuss von Hochleistungen kommen. Das ist wie Bundesliga gucken.
Welcher Star-Koch brutzelt denn nach gastrosophischen Maßstäben, wen würden Sie uns empfehlen?
Michael Hoffmann zum Beispiel. Er verwandelt Rüben in geschmackliche Wunderwerke. Sellerie kandiert er oder macht daraus mit Butter und Sahne ein zartes Püree, die Blätter verwendet er als Basis für Sellerie-Eis. Auch er schöpft aus den Geschmacksquellen des eigenen Gartens: Haferwurzel und Sauerampfer, Teltower Rübchen, Winterheckenzwiebeln oder Ackersenf. Hoffmann beweist: Nicht Allesfresserei, sondern Feinschmeckertum macht den Menschen zum Menschen.
Sein Restaurant in Berlin hat er leider aufgegeben. Müssen wir wohl doch wieder selber kochen?
Ist ja mein Reden. Und ich sehe, dass eine kulinarisch lieblos aufgewachsene Generation sich neu erfindet. Leckere Speisen gemeinsam zubereiten wird von immer mehr Menschen als eine Lebenslust entdeckt, die nicht bloß vom Geldbeutel abhängt. Die neue Kultur der kulinarischen Geselligkeit ist Teil der gastrosophischen Revolution.