Sie wurde zugebaut mit Straßen, Parkplätzen, Supermärkten und Wohnhäusern. Sie versteckt sich zwischen Feldern, wildem Fenchel, Olivenbäumen, Windrädern und Steinbrüchen, unter Stahlwerken und Müllkippen, ist mit Zäunen versperrt. Ihr wurden das Pflaster geraubt und Begrenzungssteine genommen. Und das Wissen um ihren genauen Verlauf ist nur noch ein Hauch, eine ferne Erinnerung.
Dabei war die Via Appia in der Antike die regina viarum, die "Königin der Straßen": der erste Prototyp ihrer Art in Europa, vielleicht der ganzen Welt. Gepflastert, breit genug, um in zwei Richtungen genutzt zu werden, eine technische Meisterleistung. Sie bestand aus einem Fundament aus geschichtetem Lehm, Zement und Kies, darüber große gewölbte Quadersteine, die den Regen abfließen ließen. Die Via Appia war ganzjährig befahrbar und für die Ewigkeit gebaut. 540 Kilometer reichte sie von Rom bis Brundisium (dem heutigen Brindisi) weit im Süden der Halbinsel.
Die Gemeinden wollen vom künftigen Tourismus profitieren
Vom Hafen Brundisiums aus setzten Legionen über die Adria, um nach Makedonien, Mesopotamien, Byzanz oder Nordafrika zu ziehen: Dank der Via Appia konnte das Imperium Romanum auf drei Kontinenten herrschen. Als Heerstraße und Nachschubweg für Legionäre geplant, zählte sie zudem für Jahrhunderte zu den wichtigsten Handelsverbindungen des Römischen Reichs.
Den Bau der Via Appia veranlasste im Jahr 312 v. Chr. ein Zensor (Zensoren waren einflussreiche römische Beamte, zuständig für die Volkszählung und Vermögensschätzung, den Zensus): Appius Claudius Caecus, von dem die Straße ihren Namen bekam. Zunächst führte sie teilweise schnurgerade 195 Kilometer weit über die Albaner Berge und durch die Pontinische Ebene bis nach Capua. Später reichte sie dann bis nach Brundisium. Unter Kaiser Trajan wurde sie um 100 n. Chr. im Süden um eine einfachere Route ergänzt. Auf dem Höhepunkt der römischen Macht durchzogen 13 solcher Fernstraßen von Rom aus das Reich. Insgesamt verbanden 372 Hauptstraßen die Provinzen, vermutlich mehr als 200 000 Kilometer lang, davon mehr als 80 000 Kilometer gepflastert (zum Vergleich: das deutsche Netz der Autobahnen und Bundesfernstraßen hat eine Gesamtlänge von gut 50 000 Kilometern).
Von allen römischen Straßen war die Via Appia viele Jahre lang die wichtigste. Legionäre, Bauern, Akrobaten und Wanderpriester nutzten sie, Heimatlose, Geschichtenerzählerinnen, Gewürzhändler, Pilger und Huren, Schafhirten und Unruhestifter, Kaufleute, Verbrecher auf dem Weg zur Kreuzigung. Auf ihr gelangten Gladiatoren gen Rom, wurden wilde Tiere für die Kämpfe transportiert. Über sie reisten exotische Waren aus dem Orient in den Norden, später die Kreuzritter nach Jerusalem. So beschleunigte die Fernstraße die Weitergabe von Geschichten und Wissen, auch des Christentums.
Das vielleicht einzige Weltkulturerbe, das großenteils nicht mehr existiert
Fünf Tage nur brauchten in der Antike die Schnellsten für die Route, die Reiter. Zu Fuß rechnete man mit 14 Tagen. Herbergen, Tavernen und Wachposten säumten die Via Appia, machten das Reisen sicherer und bequemer. So rückte die Straße den heute so verachteten und verarmten Mezzogiorno, den Süden Italiens, ganz nah an Rom.
Und im Zweiten Weltkrieg fuhren die Panzer der U.S. Army auf ihr in Richtung Rom.
Als der Autor Paolo Rumiz 2015 erstmals versuchte, die ganze Via Appia zu Fuß zu bewältigen, konnte er von der einst perfekten römischen Infrastruktur nur träumen. Südlich des Stadtzentrums von Rom sind nur 16 Kilometer der Via Appia als Teil eines archäologischen Parks wie ein Freiluftmuseum hergerichtet, bisweilen autofrei und begehbar. In den Basaltsteinen verlaufen tiefe Furchen, eine Erinnerung an die Abertausenden Wagen, die hier langpolterten. Historische Mausoleen, Theater, Villen säumen den Straßenrand.
Letztmals sichtbar wird die Straße beim McDonald’s "Roma Appia", bei dessen Bau Reste der antiken Straße gefunden wurden. Eine Glasdecke sichert heute die darunter liegenden Ausgrabungen, Steine und Skelette (als Repliken). Auf ihr stehen die Stühle und Tische des Fast-Food-Lokals.
Etwa hier geht die antike Straße in die bis dahin parallel verlaufende Via Appia Nuova über, die Strada Statale 7, eine teils vierspurige Staatsstraße, die heute zu großen Teilen auf der alten Römerroute bis nach Brindisi verläuft. Wie früher führt sie südlich von Rom 62 Kilometer schnurgerade durch die Pontinische Ebene.
Paolo Rumiz wusste, dass die Tour kein Vergnügen wird. Ihm ging es darum, das römische Meisterbauwerk wiederzuentdecken, das im weiteren Verlauf schon kurz hinter Rom verschüttet, verschwunden, oft ganz vergessen ist. Er recherchierte zusammen mit Freunden antike Karten, historisches Material des Istituto Geografico Militare, las den römischen Dichter Horaz, der seine Reise auf der Via Appia beschrieb. Die Gruppe orientierte sich am aktuellen Straßennetz sowie an Satellitenbildern und Geodaten, die von Fans der Antike auf OpenStreetMap veröffentlicht wurden.
Dank der Via Appia konnten die Römer auf gleich drei Kontinenten herrschen
Immer wieder verschwindet die Straße in Morast und dornigem Dickicht. Und einmal an den Zäunen des Stahlwerks in Tarent, unter dessen Hochöfen die Via Appia verlaufen soll. "Nicht die Barbaren haben die Straße zerstört, als sie Rom unterwarfen, es waren die Italiener selbst", sagt Rumiz. "In den 1960ern wurde ein Großteil unseres antiken Erbes verkauft und vernichtet. Die Archäologen störten die Bauherren und die Mafia." Was Rumiz besonders erzürnt: "Für römische Schätze im British Museum würden Italiener stundenlang anstehen. Aber im eigenen Land haben sie keinen Respekt vor der Geschichte. Die Italiener lieben ihr Land einfach nicht. Als Italiener leide ich wie ein Hund, weil in meinem Land die Erinnerung mit Füßen getreten wird."
Insgesamt vier Mal reiste Rumiz die Strecke zwischen Rom und Brindisi, unterhielt sich mit Leuten, die er unterwegs traf, klaubte auf diese Weise das fast verlorene Via-Appia-Wissen der Einheimischen zusammen: "Unsere Anwesenheit entfachte so etwas wie vergessenen Stolz" auf die römische Geschichte in den Dörfern. Tausende Italienerinnen und Italiener schlossen sich nach einem Aufruf spontan Rumiz an, wanderten mit ihm auf der Via Appia.
Was als Idee eines Einzelnen begann, wurde zu einer Bewegung. In Kampanien und Apulien halfen Wandervereine und Fahrradclubs, die Via Appia zu kartieren, taten sich Bürgerinitiativen zusammen, um sie wieder begehbar zu machen. Als eine illegale Müllkippe in Itri in der Region Latium aufgrund von Protesten abgetragen wurde, tauchte ein Stück der Via Appia wieder auf. Bestens konserviert unter dem Dreck und Schrott, der den Steinen nichts anhaben konnte.
"Eigentlich ist es egal, ob man auf der echten Appia läuft. Die Via Appia ist ein Band, eine Linie, eine Idee, eine Gelegenheit, in den vernachlässigten, verarmten Süden zu reisen, auch meine eigene Familiengeschichte wiederzufinden", sagt Andrea Frazzetta, der Fotograf dieser Geschichte. Sein Großvater lebte im apulischen Mesagne, das direkt an der alten Appia-Route liegt, bis heute vor allem als Heimatdorf eines Mafia-Clans bekannt. Auch Frazzetta stammt aus Süditalien: "Wenn mehr Menschen von der Via Appia wissen und auf ihr unterwegs sind, kann das den Süden stärken, vielleicht sogar verändern." In Mesagne wird gerade ein Teilstück der Via Appia ausgegraben.
Die Italiener lieben ihr Land nicht. Sie haben keinen Respekt vor der Geschichte
Das italienische Kulturministerium beantragte schließlich bei der UNESCO den Welterbestatus für die Via Appia, den die alte Römerstraße im Juli 2024 tatsächlich bekam. Eine wundersame Entwicklung: Nicht nur, dass Italien mit 60 Welterbestätten jetzt die Nummer eins ist (vor China). Wahrscheinlich schützt Italien auch als einziges Land mit der Via Appia ein Kulturerbe, das zu großen Teilen gar nicht mehr existiert, dessen Wiederentdeckung im Moment nur ein Versprechen ist.
20 Millionen Euro hat das Kulturministerium jetzt für neue archäologische Grabungen und für den touristischen Ausbau der Via Appia als Fernwanderweg versprochen. 29 Etappen zwischen Rom und Brindisi sollen demnächst mit Wegweisern versehen werden. "Schon jetzt streiten sich Gemeinden darum, auf der Route zu liegen", sagt Andrea Frazzetta. "Sie wollen vom zukünftigen Tourismus profitieren."
Allerdings wird es noch eine Weile dauern, bis Wanderern der gesamte Verlauf der Via Appia wirklich offensteht. Selbst Antike-Fans aus den Niederlanden, die wild entschlossen waren, die gesamte Strecke im Römerkostüm zu gehen, mussten aufgeben, erzählt Rumiz. Die Gruppe hatte vor, sich in Tunika und Sandalen entlang der Strada Statale 7 bis in den Süden zu schlagen, durch Schlamm, Gebüsch, Olivenhaine und wilden Knoblauch. Sie scheiterte. Der Weg war einfach zu schlecht.