Gewaltritual Doppeltes Menschenopfer: In blutigen Zeremonien töteten die Maya bewusst Zwillingsjungen

Blick auf mehrere Tempelanlagen in Chichén Itzá, im Hintergrund der El Castillo
Respekt gebietend: Hoch ragen die Tempelanlagen in Chichén Itzá empor, etwa der El Castillo, auch als Kukulcán bekannt (im Hintergrund). Sie künden von Macht und Reichtum der Maya-Stadt – und waren in der Vergangenheit oft Schauplatz von Menschenopferungen
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Das prächtige Chichén Itzá gehörte zu den größten und einflussreichsten Städten in der Welt der alten Maya. Und wie auch anderswo in der Region pflegten die Bewohner hier den finster anmutenden Brauch, Menschen zu opfern. Nun hat ein Forscherteam festgestellt, dass es dabei auch eineiige Brüder traf – aus rituellen Gründen

Um die Menschenopfer der Maya, der schillernden mesoamerikanischen Hochkultur, kreisen viele Mythen. Über das berühmte Machtzentrum Chichén Itzá im Süden von Mexiko haben Forschende jetzt neue Erkenntnisse gewonnen. Anders als bislang vielfach angenommen, wurden dort wohl keineswegs vor allem Mädchen und
 junge Frauen rituell geopfert, wie ein Forscherteam vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie im Fachmagazin "Nature" berichtet. Zudem deutet eine sehr enge
verwandtschaftliche Verbindung zwischen einigen Geopferten auf den Schöpfungsmythos der Maya hin.

So berühmt wie die Maya-Stadt Chichén Itzá auf der mexikanischen 
Halbinsel Yucatán ist kaum eine andere archäologische Stätte
 Amerikas. In der Phase zwischen dem Zusammenbruch der klassischen
Maya-Reiche und der Ankunft der spanischen Eroberer um 1500 hatte sie sich zu einem bevölkerungsreichen und politisch mächtigen Zentrum entwickelt. Zu ihrer monumentalen Architektur gehören neben vielen Tempeln
und Pyramiden auch mehr als ein Dutzend Ballspielplätze.

Zahlreich vorhanden sind zudem Belege für rituelle Tötungen – es gibt Nachweise in Form von Überresten der Geopferten und in bildlichen Darstellungen. Die 
Funde und Quellen deuten darauf hin, dass Menschenopfer im rituellen Leben von
Chichén Itzá von zentraler Bedeutung waren. Die genauen Umstände und Zwecke der Opferungen seien aber immer noch rätselhaft, hieß es vom
 Max-Planck-Institut. Ziele der Rituale waren vermutlich etwa, bessere Ernten oder ergiebigeren Regen herbeizuführen.

The pyramid of the Sun ancient ruins building  in Teotihuacan, Mexico. (Photo by: Avalon/Universal Images Group via Getty Images)

Rätselhafte Hochkultur Die Menschenopfer von Teotihuacán

Im 3. Jahrhundert n. Chr. ist Teotihuacán im heutigen Mexiko die größte Stadt Amerikas. Deren Elite demonstriert ihre Macht in kolossalen Tempeln  – und prägt ein grausiges Ritual

Die Geopferten waren jung, männlich – und sie lebten eng zusammen

Ein Großteil der Geopferten waren Kinder oder Jugendliche. Bislang habe man vermutet, dass es sich dabei vor allem um Mädchen und junge Frauen handelte. Neuere Forschungen hatten aber bereits nahegelegt, dass viele der älteren Heranwachsenden männlich waren.

Teilansicht eines Reliefs mit Darstellungen von Schädeln
Furchterregend: Die Schädel von Geopferten wurden nach der Zeremonie auf Holzgerüsten drapiert. Alte steinerne Reliefs wie dieses verweisen in Chichén Itzá noch heute auf das Vorgehen der früheren Maya
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Das Team vom Max-Planck-Institut analysierte nun die Überreste von 64 rituell
bestatteten Kindern aus einer 1967 entdeckten unterirdischen Kammer – wahrscheinlich einer früheren Wasserzisterne, Chultún genannt. Das
Chultún wurde demnach mehr als 500 Jahre lang genutzt, vom 7. bis zum
 12. Jahrhundert, vor allem während der politischen Blütezeit von
Chichén Itzá zwischen 800 und 1000. Alle 64 Kinder waren männlich, wie die Forschenden berichten. In elf Fällen seien je zwei der Jungen
 eng verwandt gewesen – also insgesamt 22 Heranwachsende. Aus
 den festgestellen Ernährungsmustern ließ sich ableiten, dass sie wahrscheinlich im 
selben Familiennetzwerk aufwuchsen – möglicherweise sogar im gleichen 
Haushalt.

Wahrscheinliches Vorbild: die mythischen Zwillinge

"Überraschenderweise haben wir auch zwei eineiige Zwillingspaare
 identifiziert", sagte eine Wissenschaftlerin des Leipziger Teams. Zusammengenommen
 deuten die Ergebnisse den Forschenden zufolge darauf hin, dass 
verwandte männliche Kinder wahrscheinlich paarweise für Rituale ausgewählt wurden.

Zwillinge nähmen in den Schöpfungsmythen und im spirituellen Leben 
der damaligen Maya einen besonderen Platz ein, hieß es zur 
Erläuterung. Im "Buch des Rates" (Popol Vuh) der
Quiché-Maya seien Zwillingsopfer ein wiederkehrendes Thema. Etwa bei der
 Geschichte der Zwillinge Hun und Vucub Hunahpú, die in die Unterwelt
hinabsteigen und von Göttern getötet werden. Zudem werden die
 Zwillingssöhne von Hun Hunahpú als
Heldenbrüder verehrt und seien in der klassischen Maya-Kunst allgegenwärtig.

Auch das Drama der Kolonialzeit ist ablesbar an den Körpern

Aus den genetischen Analysen – ergänzt um solche heute lebender
 Nachfahren – konnte das Forschungsteam auch noch andere wichtige Schlüsse ziehen, die die Auswirkungen von Epidemien der Kolonialzeit auf indigene Bevölkerungsgruppen Mesoamerikas bis heute betreffen. Demnach veränderten sich die Immunsysteme der Menschen durch Selektion hin zu genetischen Varianten, die vor einer Salmonellen-Infektion schützen. 

Im 16. Jahrhundert sank die Zahl der Einheimischen in Mexiko von 10 bis 20 Millionen auf nur noch etwa 2 Millionen, unter anderem durch eingeschleppte Infektionskrankheiten wie Pocken, Masern, Mumps,
Grippe, Malaria und Typhus. Zu den schwerwiegendsten Epidemien gehörte die Cocoliztli-Epidemie von 1545, die wahrscheinlich
durch Salmonellen verursacht wurde. So tragen die Maya, das legen die Ergebnisse der Untersuchung nah, noch heute die
 genetischen Narben dieser Epidemien aus der Kolonialzeit in sich.

dpa/Annett Stein