Es ist ein kalter Februarabend, kurz vor Mitternacht, als Karin Gueffroy die Schüsse hört. Sie ahnt, dass sie von der Mauer kommen, jener unweit ihrer Wohnung verlaufenden Grenze, die Berlin seit fast drei Jahrzehnten in zwei Teile teilt. Nicht aber, dass sie ihrem Sohn gelten.
Der 20-jährige Chris, lockiges Haar, Oberlippenflaum, melancholischer Blick, hatte ihr gesagt, er wolle nach Prag reisen. Doch in Wirklichkeit hatte er den Plan gefasst, nach Westberlin zu fliehen, die DDR hinter sich zu lassen, für ein freieres Leben.
Die erste Kugel trifft ihn in den Fuß, die zweite ins Herz. Am 5. Februar 1989 wird Chris Gueffroy zum letzten DDR-Flüchtling, der an der Mauer erschossen wird. Er stirbt an dem Symbol der deutschen Teilung, das schon wenige Monate nach seiner Ermordung fallen soll.
Im 40. Jahr ihres Bestehens brodelt es in der DDR. Regimekritiker verteilen im Januar 1989 tausende Flugblätter, bald darauf gehen hunderte Menschen auf die Straße, es sind die größten Proteste seit dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Das Gefühl, etwas tun zu müssen gegen das System, gewinnt Tag für Tag an Dringlichkeit.

Und doch kann sich kaum jemand zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass die DDR bald zusammenbrechen könnte. Auch Chris Gueffroy nicht.
Der 20-Jährige leidet unter der Enge im "Arbeiter- und Bauernstaat". Weil er sich geweigert hat, eine Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee (NVA) einzuschlagen, hat er kein Abitur machen dürfen, und ohne Abitur kann er nicht Pilot werden oder Schauspieler, wie er es sich seit Langem wünscht. Stattdessen kellnert er – und erfährt Anfang 1989, dass er im Mai seinen Wehrdienst antreten soll.
Der Schießbefehl sei ausgesetzt, erzählte ein Freund
Er könnte nun einen Ausreiseantrag stellen, wie es schon weit mehr als 100.000 Menschen in der DDR getan haben. Aber das hat keine Aussicht auf Erfolg. Vielmehr verlieren diejenigen, die ein "Rechtswidriges Übersiedlungsersuchen" einreichen, wie es offiziell heißt, in aller Regel ihre Arbeit, werden vom Regime schikaniert.
Da erzählt Gueffroy ein Freund, der bei der NVA ist, der Schießbefehl an der Mauer sei ausgesetzt. Zudem hört er, dass der schwedische Ministerpräsident Anfang Februar auf Staatsbesuch in Ostberlin sein soll – wenn ein westlicher Regierungschef in der Stadt ist, so denken sich Gueffroy und sein gleichaltriger Mitbewohner Christian Gaudian, wird das Regime sowieso wohl kaum auf Zivilisten schießen lassen.
Sie beschließen, die Gelegenheit zu nutzen und zu fliehen. Was sie nicht wissen: Ihr Freund irrt sich, der Schießbefehl besteht nach wie vor; und der schwedische Staatsgast ist schon wieder abgereist, als sich die beiden jungen Männer am 5. Februar gegen 21 Uhr auf den Weg zur Grenze machen. In Berlin-Treptow wollen sie durch den Teltowkanal nach Westen schwimmen.
Bei einem Grad über Null robben sie stundenlang durch den von mehreren Barrieren durchzogenen Grenzstreifen, vorbei an Kontrollpunkten, überwinden die drei Meter hohe "Hinterlandmauer" und haben bald nur noch ein Hindernis vor sich: einen drei Meter hohen Stahlzaun. Plötzlich heult eine Sirene los, Scheinwerfer erstrahlen, und als die beiden Freunde auf den Zaun zu rennen, beginnen die Grenzsoldaten zu schießen.
Ein Grenzsoldat setzte höher an
Mithilfe eines Ankers, den sie aus einer Wäscheleine und einem abgebrochenen Rechenstiel gebaut haben, versuchen die Flüchtenden, die letzte Absperrung zu überwinden. Als das nicht klappt, macht Gueffroy für seinen Freund eine Räuberleiter. Da trifft ihn eine Kugel in den Fuß. Weil er keine Reaktion zeigt, wohl wegen des Adrenalins, setzt der etwa 40 Meter entfernte Grenzsoldat höher an. Das Projektil zerreißt Gueffroys Herzmuskel, er stirbt wenige Minuten später. Christian Gaudian, ebenfalls am Fuß getroffen, überlebt und wird festgenommen.
Karin Gueffroy ist längst nicht die einzige, die die Schüsse hört, auch die Nachbarn reden darüber. Doch erst zwei Tage danach erzählt ein Freund von Chris ihr, was ihr Sohn vorhatte – und dass womöglich er es war, auf den gefeuert wurde. Noch am selben Abend holt die Staatssicherheit Karin Gueffroy ab. Die Beamten vernehmen sie stundenlang und eröffnen ihr dann, dass ihr Sohn in eine "militärische Sicherheitszone" eingedrungen und schwer verletzt worden sei – "trotz sofort einsetzender medizinischer Versorgung" sei er verstorben.

Die DDR-Behörden wollen den Mord an Gueffroy verheimlichen, doch sie können die Tat nicht vertuschen. Auch, weil ihnen durchgeht, dass Gueffroys Bruder in der "Berliner Zeitung" eine Todesanzeige für ihn schaltet und darin einen "tragischen Unglücksfall" in der Nacht zum 6. Februar erwähnt. Nun verbinden westdeutsche Zeitungen Gueffroys Tod mit den Schüssen an der Mauer, und eine Welle der Empörung baut sich auf.
Mehr als 100 Menschen kommen am 23. Februar zu Gueffroys Beerdigung. Oppositionelle berichten über den Mord. Die Proteste reißen nicht ab. Im April hebt Erich Honecker den Schießbefehl auf. "Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schusswaffe anzuwenden", begründet er den Schritt intern.
Zehntausende gingen auf die Straße
Doch das Regime wird nicht mehr Herr der Lage. Der Ostblock bröckelt, in Moskau setzt Michail Gorbatschow auf Perestroika, Ungarn baut seinen Grenzzaun ab, und in der DDR sind es bald nicht mehr Hunderte, sondern Zehntausende, die auf der Straße protestieren. Die Ereignisse beschleunigen sich auf beispiellose Weise: 1989 wird zum Epochenjahr, das eine Zeitenwende mit sich bringt.
Am 9. November, ziemlich genau neun Monate nach Gueffroys Fluchtversuch, fällt die Mauer. Und weitere elf Monate später, am 3. Oktober 1990, hört die DDR offiziell auf zu existieren.

Der Grenzsoldat, der den tödlichen Schuss auf Chris Gueffroy abgegeben hat, wird nach der Wiedervereinigung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, der Rechtsspruch dann jedoch aufgehoben und in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, da der Soldat nur Befehlsempfänger gewesen sei. Auch fast alle anderen Prozesse gegen Mauerschützen folgen fortan dieser Argumentation.
Mindestens 90 DDR-Flüchtlinge sind an der Berliner Mauer erschossen worden, um die exakte Zahl streiten Forschende bis heute. Sicher ist: Chris Gueffroy war das letzte Opfer, das an der innerdeutschen Grenze durch eine Schusswaffe ums Leben kam.
In einem Interview sagt seine Mutter Jahre später, ihr Sohn sei ein neugieriger, fröhlicher Mensch gewesen. Sein großer Traum sei es gewesen, einmal nach Amerika zu reisen.