Covid-19 Rätselhafte Corona-Folge: Pubertät setzt vermehrt früher ein

Porträt eines jungen Mädchens mit nachdenklichem Blick und aufgemalten Herzen auf den Wangen
Die Pubertät ist eine Zeit der Umbrüche. Beginnt sie schon vor dem neunten oder achten Lebensjahr, kann das für die betroffenen Kinder belastend sein
© Nabi Tang / Stocksy
Kinder durchlaufen die körperlichen und psychischen Veränderungen der Pubertät heutzutage deutlich früher als noch vor Jahrzehnten. In der Pandemie stieg die Zahl verfrüht Pubertierender noch einmal stark an. Dafür kann es Forschenden zufolge verschiedene Gründe geben

Schon seit Jahrzehnten berichten Mediziner über eine im Mittel immer früher einsetzende Pubertät. Die Corona-Pandemie hat diesen Effekt noch deutlich verstärkt. "Es wurden 20 bis 30 Prozent mehr Fälle verfrühter Pubertät erfasst", sagt Bettina Gohlke von der Universitätskinderklinik Bonn. Das Phänomen sei weltweit aufgefallen, entsprechende Daten gebe es aus Europa ebenso wie aus den USA und China. 

Als verfrühte Pubertät – Pubertas praecox – wird die Entwicklung äußerer Sexualmerkmale bei Jungen vor dem vollendeten 9. und bei Mädchen vor dem vollendeten 8. Lebensjahr bezeichnet. Bei Mädchen entwickelt sich dann unter anderem die Brust. Eine Vermutung zum Corona-Effekt war darum, dass die frühere Entwicklung den Eltern eher auffiel, weil sie im Zuge von Schulschließungen und Homeoffice mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten.

Ist psychosoziale Belastung der Grund für die Zunahme?

Möglich sei auch ein Zusammenhang mit höherer psychosozialer Belastung, erklärt Kinderendokrinologin Gohlke. Frühere Studien hätten ergeben, dass Kinder in solchen Situationen körperlich früher reifen. Diskutiert werde zudem ein Gewichtseffekt: Viele Kinder aßen in der Pandemie mehr beziehungsweise bewegten sich merklich weniger - und Übergewicht gilt als einer der wichtigsten Faktoren für eine früh einsetzende Pubertät.

Illustration Pubertät

Gehirnentwicklung Weshalb Teenager oft so seltsam sind

Mitunter erkennen Eltern während der Pubertät ihre Kinder nicht wieder. Die sind in einem Moment impulsiv und waghalsig, im nächsten planlos und verträumt. Der Grund: Ihr Gehirn gleicht einer Großbaustelle.

"Aber auch, wenn das Gewicht herausgerechnet wurde, blieb ein Plus an Fällen von Pubertas praecox", sagt Gohlke. "Vermutlich handelt es sich um einen multifaktoriellen Effekt." Unklar sei bisher, ob er sich mit dem Abklingen der Pandemie wieder verflüchtige.

Der durchschnittliche Pubertätsbeginn sinkt seit Jahren

Biologisch setzt die Pubertät mit der vermehrten Produktion von Geschlechtshormonen ein, wie der Münchner Endokrinologe Günter Stalla erklärt. Bei Jungen vergrößern sich demnach in der Folge Hoden und Hodensack, gefolgt von einer Verlängerung des Penis. Scham- und Achselhaare wachsen. Bei Mädchen entwickeln sich die Brüste, kurz darauf folgen Scham- und Achselbehaarung, Jahre später dann die erste Regelblutung. 

Daten eines Forschungsteams um Gohlke zufolge ist das durchschnittliche Alter bei Pubertätsbeginn bei Mädchen seit den 70er-Jahren um etwa drei Monate pro Jahrzehnt gesunken. Bei Jungen sei die Entwicklung ähnlich. Das Alter am Pubertätsende hingegen verschob sich in den vergangenen 50 Jahren nicht – die Pubertät dauert also im Mittel länger als früher. Kaum verändert hat sich auch das durchschnittliche Alter bei der ersten Regelblutung.

Übergewicht beschleunigt die sexuelle Reifung

Prinzipiell sei vor allem genetisch festgelegt, wann die Hormonausschüttung und damit die Pubertätsmaschinerie anspringe, erklärt der Hamburger Endokrinologe Stephan Petersenn. Einfluss haben aber auch Faktoren wie anhaltende psychische Belastung und Ernährung. Übergewicht gilt als maßgeblich für die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte: Im Fettgewebe entstehe dann vermehrt der Botenstoff Leptin, der die Pubertät vorantreibe, so Petersenn, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE). Je dicker ein Kind, desto früher entwickelt es sich zum Erwachsenen.

Das Einsetzen der Pubertät hänge also immer auch mit dem Lebensstandard in der Gesellschaft zusammen, so Petersenn. Es sei gut vorstellbar, dass es auch in der Vergangenheit immer wieder deutliche Schwankungen beim Startalter gegeben habe. Aktuell treffe eine verfrühte Pubertät Kinder aus sozial schwächeren Familien anteilig häufiger, weil sie öfter übergewichtig seien, sagt Stalla, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie. "Gesundheit hängt von sozialem Status und Bildung ab, das zeigt sich auch hier."

Kinder sind heute viel mehr hormonell wirksamen Substanzen ausgesetzt als früher

Einfluss hat nach Annahme vieler Experten neben Übergewicht auch, dass Kinder heutzutage einem ganzen Cocktail hormonell wirkender Substanzen ausgesetzt sind. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Einfluss hat", betont Gohlke. Auch Stalla und Petersenn sehen klare Anzeichen dafür. "Das Problem ist der Mangel an Studien", erklärt Gohlke. Aus Tierversuchen ließen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen, klinische Studien am Menschen seien in dem Bereich nicht möglich. 

Was bedeutet eine nach den aktuellen medizinischen Leitlinien zu früh einsetzende Pubertät für ein Kind? "Die einsetzende Pubertät ist ein Wachstumsbeschleuniger", erklärt Stalla. Vorzeitig pubertierende Kinder schießen also zunächst rascher in die Höhe – doch es gibt bei ihnen einen gegenläufigen Prozess, der zur Folge hat, dass sie im Mittel letztlich kleiner bleiben als später in die Pubertät startende. Die Sexualhormone, die das Wachstum zunächst beschleunigen, sorgen auch dafür, dass es verfrüht endet, indem die Wachstumsfugen geschlossen werden. 

Eine vorzeitige Pubertät ist für viele Kinder seelisch belastend

Neben solchen körperlichen Folgen kann es psychische geben, wie Petersenn sagt. Und das nicht nur deshalb, weil Kinder sich zum Beispiel für Brustwachstum oder Behaarung schämten: Mit einsetzender Pubertät veränderten sich auch die Art zu denken und die Gefühlswelt, was zu Problemen im Freundeskreis führen könne, erklärt Petersenn. "Man reift früher zu erwachsenem Denken heran." Diskutiert werden unter Experten auch mögliche Langzeitfolgen wie ein höheres Risiko für bestimmte Krankheiten – gesicherte Erkenntnisse fehlen aber. "Richtig gute Daten zu Langzeitfolgen gibt es nicht", sagt Gohlke.

Remo Largo

Erziehung Herr Largo, wie begleite ich mein Kind durch die Pubertät?

Wenn die Pubertät einsetzt und die Zuwendung der Kinder versiegt, verunsichert das viele Eltern zutiefst . Im "GEO WISSEN"-Interview erläutert der Bestseller-Autor und Entwicklungsspezialist Remo Largo, wie Väter und Mütter ihren Nachwuchs am besten durch diese Zeit begleiten

Stoppen lässt sich der verfrühte Pubertätsstart durch das Spritzen synthetischer Botenstoffe, die die Produktion von Sexualhormonen unterbinden. Sie werden alle drei Monate injiziert. Bei Mädchen, die mit sieben bis siebeneinhalb Jahren in die Pubertät starten, entschieden sich das Kind beziehungsweise seine Eltern in etwa der Hälfte der Fälle gegen eine solche Therapie, ist Gohlkes Erfahrung. Manche Eltern oder auch das Kind selbst stresse die Diagnose jedoch sehr. Für das Größenwachstum spiele die Therapie keine Rolle mehr, erklärt die Medizinerin. Dafür müsse sie früher, vor dem sechsten Lebensjahr beginnen. Solche Fälle seien aber selten.