Die Schnitte im Halswirbelknochen des Kindes sind wenige Millimeter kurz. Sie stammen nicht aus einem wilden Kampf, im Gegenteil: Sie verlaufen quer zum Knochen, sind schmal und gleichmäßig. Das Kind, zum Zeitpunkt seines Todes war es zwischen zwei und vier Jahre alt, wurde in aller Ruhe enthauptet.
Und anschließend, so glaubt die Forscherin Palmira Saladié, verspeist.
Saladié forscht am spanischen Institut für menschliche Paläoökologie und Evolution. "Der Wirbel weist deutliche Einschnitte an anatomisch wichtigen Stellen auf, die für die Ablösung des Kopfes notwendig sind", sagt sie. "Dies ist ein direkter Beweis dafür, dass das Kind wie jedes andere Beutetier verarbeitet wurde."
Regelmäßig verspeiste der Frühmensch seine Artgenossen
Der Halswirbel stammt aus der Archäologiestätte Atapuerca, auch Gran Dolina genannt, im Norden Spaniens. Er wurde jüngst zusammen mit den Überresten von neun weiteren, deutlich älteren Individuen entdeckt. Die Gebeine sind etwa 850.000 Jahre alt und gehörten Homo antecessor. Inwiefern dieser Frühmensch eine eigene Gattung darstellt, ist ebenso umstritten wie seine Verwandtschaft mit anderen Homo-Arten.

Dass Homo antecessor regelmäßig seine Artgenossen verspeiste, gilt hingegen als gesichert. Bereits 1996 veröffentlichten Forscher erste Studien zum Kannibalismus der Frühmenschen in Atapuerca. Im Gegensatz zu vielen anderen Fundstätten – zuletzt sorgte ein mutmaßlicher Kannibalismus-Beleg in einer polnischen Fundstätte für Kritik – gelten die Knochenfunde aus Atapuerca als eindeutig. So tragen auch die neben dem Kleinkind gefundenen Knochen markante Schnitte und Bisspuren. Manche der Markknochen wurden gar zertrümmert.
"Die derzeit geborgenen Überreste befinden sich an der obersten Stelle der archäologischen Schicht und ehrlich gesagt sind noch weitere Untersuchungen erforderlich, bevor wir sie richtig interpretieren können", sagt Palmira Saladié auf GEO-Anfrage. Die darunter liegende Schicht sei vermutlich eine Art Basislager gewesen, in das Hominiden ihre Beute brachten, um sie zu verzehren. Gemeint sind: wilde Tiere und Artgenossen.
"Die Überreste aus der obersten Schicht könnten zu diesen Besiedlungsereignissen gehören, aber sie könnten auch von Hyänen, die später die Höhle besetzten, oder durch andere Prozesse nach der Ablagerung dorthin gelangt sein", sagt die Forscherin. Auf jeden Fall jedoch untermauern sie Saladiés Hypothese: Für Homo antecessor war Kannibalismus keine Ausnahme, sondern die Regel.

Warum die Frühmenschen sich jedoch gegenseitig verspeisten, darüber rätseln sie und ihre Mitarbeitenden weiterhin. Zum einen ist auch menschliches Fleisch eine wertvolle Nahrungsquelle und war andernorts oftmals ein notwendiges Überlebensübel. Andererseits könnte sich Saladié auch vorstellen, dass der Kannibalismus unter Homo antecessor als Waffe in territorialen Kämpfen genutzt wurde. Demnach könnte das Kleinkind einem verfeindeten Stamm zum Opfer gefallen sein.
Antworten zum Leben der Frühmenschen erhofft die Forscherin in Atapuerca: "Jedes Jahr entdecken wir neue Beweise, die uns dazu zwingen, neu darüber nachzudenken, wie sie lebten, wie sie starben und wie die Toten vor fast einer Million Jahren behandelt wurden."