GEO: Wann begannen die Menschen, an übernatürliche Kräfte zu glauben, die ihr Leben bestimmen?
Ara Norenzayan: Das ist schwer zu sagen, denn der Glaube hinterlässt ja nicht so eindeutige archäologische Spuren wie vorzeitliche Siedlungen oder historische Schlachten. Wir wissen aber, dass die frühen Religionen höchstwahrscheinlich animistisch waren: Die Menschen schrieben Phänomenen der Natur eine bestimmte Energie zu. Ein Berg oder ein Baum hatten eine gewisse Kraft. Diese Art Naturauffassung sehen wir auch heute noch in Gesellschaften von Jägern und Sammlern.
Der Glaube beruhte also auf Naturerfahrung?
Über Abertausende Jahre erlebten die Menschen die Natur als voller Macht und Geheimnisse. Sie versuchten, die Natur zu respektieren und mit Angst und Unsicherheiten umzugehen. Heute leben wir in einer entzauberten Welt. In der Natur liegt für uns kein Mysterium mehr, sondern sie ist etwas, das wir kontrollieren und verstehen, das wir für unsere eigenen Zwecke gestalten und verändern. Das war früher ganz anders.
Glaubten die Menschen deshalb an übersinnliche Kräfte?
Voraussetzung war eine bestimmte Art zu denken, die das Übernatürliche überhaupt als sinnvoll erscheinen lässt. Also erstens die Überzeugung , dass der Geist vom Körper getrennt sein kann; es gibt zum einen die physische Existenz, zum anderen das Bewusstsein. Und zweitens die Vorstellung, dass die Dinge existieren, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Das verstehen wir unter teleologischem Denken.