Oxana Juschko nimmt immer Kuchen und Süßigkeiten mit. Sie sitzt mit den Familien zusammen, die sie fotografieren möchte, sie trinken Tee, essen Gebäck. Sie tauschen ihre Geschichten aus, ihre ukrainisch-russischen Familiengeschichten. Oxana Juschko beobachtet.
Manchmal macht sie schon in dieser Situation, ganz spontan, das Bild. Manchmal sucht sie dafür erst einen anderen Ort in der Wohnung der Familie. Einen Platz am Fenster, die Ecke mit dem Babybett, die Küche, immer wieder die Küche.
Etwa die Hälfte aller Ukrainer*innen haben Familienangehörige in Russland, ein Drittel gibt in Umfragen an, Freunde und gute Bekannte im Nachbarland zu haben. "Krieg ist schrecklich. Und dieser Krieg ist besonders tragisch wegen der engen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland, wegen dieser Familien", sagt Oxana Juschko. "Es wird womöglich Jahrhunderte, mindestens aber Jahrzehnte dauern, um darüber hinwegzukommen."
Juschko hat im Jahr 2014 mit ihrem Fotoprojekt begonnen. Es war das Jahr, in dem auf dem Majdan in Kiew Menschen erschossen wurden, als Russland die Krim annektierte und im Donbas ein Krieg ausbrach. Ihre Fotos sollten der Propaganda etwas entgegensetzen und Hoffnung geben, sagt Juschko.
Es war zunächst gar nicht als langfristiges Projekt geplant. Es begann mit einem Bild, das die Fotografin auf Facebook postete. Das Bild ihrer Eltern, die seit mehr als 50 Jahren zusammenleben. Juschkos Mutter hat russische Wurzeln, ihr Vater ukrainische, auch wenn damals, als sich beide an der Universität in Charkiw kennenlernten, noch alles Sowjetunion war. Das Bild der Eltern sollte eine Botschaft verbreiten: "Ich wollte sagen: Seht her, hier sind meine Eltern! Sie lieben sich, sie leben seit so vielen Jahren zusammen, und ihre Herkunft war nie ein Thema zwischen ihnen."
Die Reaktionen auf Facebook waren überwältigend positiv. Die Leute wollten mehr dieser Bilder, sie schlugen ukrainisch-russische Paare aus dem Bekanntenkreis vor, manche meldeten sich direkt bei Oxana Juschko, um fotografiert zu werden, andere schickten Bilder ihrer Großeltern. Juschko traf Paare, die sich in der Ukraine kennengelernt hatten und nun in Russland wohnen, andere, die im Ausland zusammenleben, eine Familie, die aus der Ostukraine nach Moskau geflohen war.
Juschko fotografierte viele Familien. "Diese Menschen zeigen, dass Liebe stärker ist als alles andere." Eine Woche bevor russische Truppen das Nachbarland Ukraine angriffen, fuhr Oxana Juschko aus Moskau in das ukrainische Charkiw. In der Stadt leben ihre Eltern, die heute 85 Jahre alt sind. Ihre Mutter hatte einen Schlaganfall erlitten, Juschko besuchte sie im Krankenhaus.
"Überall haben sie vom Krieg gesprochen, die Schlagzeilen der Zeitungen waren voll davon", erzählt Oxana Juschko. "Es hat mich verrückt gemacht, dauernd darüber zu lesen. Es war undenkbar, dass das passiert. Ein böser Traum, aus der Hölle. Und dann ist es Realität."
Oxana Juschko ist in der Ukraine geboren und aufgewachsen. Sie lebt seit 25 Jahren in Moskau, seit 15 Jahren besitzt sie einen russischen Pass. Ihr Mann ist Ukrainer. Juschko hat für das Projekt auch ein Foto von sich und ihrem Ehemann gemacht. Die beiden sitzen auf dem Boden ihres Moskauer Appartements. Auf dem Bild lehnen sie sich aneinander, sie blicken in die gleiche Richtung, ein sanftes Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie sehen aus, als würden sie hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Das Bild stammt aus dem Jahr 2014.
Russisch, Ukrainisch? Die Frage hat für Oxana Juschko und ihre Familie nie eine Rolle gespielt. Sie tut es auch jetzt nicht, sagt sie. Nur der Krieg erinnert sie ständig daran, dass diese Frage nun wichtig ist. Juschko sagt, sie fühlt, dass die Kontaktlinie durch ihren Körper hindurch geht. Kontaktlinie – so wurde die Front in der Ostukraine genannt, die zwischen den ukrainischen Truppen und separatistischen, von Russland unter stützten Kämpfern verlief.
Ihre Eltern sind noch immer in Charkiw, sie wollen nicht gehen, Oxana Juschko kann nicht mehr zu ihnen, die Grenzen sind dicht. Ihre Mutter ist noch nicht wieder gesund, sie ist auf Medikamente angewiesen. Doch die Apotheken sind entweder geschlossen oder ohne Ware. Oxana Juschko organisiert nun Medikamentenlieferungen zu ihren Eltern, spannt Freunde und entfernte Verwandte in der Ukraine ein. Es gibt ihr das Gefühl, zumindest ein bisschen etwas tun zu können. Sie weiß nicht, ob sie ihre Eltern wieder sehen wird.
Oxana Juschko ist immer noch in Russland. Sie wäre gern nützlicher, sagt sie. "Ich mache dieses Projekt auch, weil es mir hilft, mich nicht verloren zu fühlen." In den vergangenen Wochen hat sie mehrere Anfragen zu ihren Familienbildern bekommen. Auch die Leitung eines italienischen Fotofestivals hatte angefragt. Sie sagte erst ab. Dann hat sie doch zugesagt. "Vielleicht hilft es anderen, zu verstehen, dass Liebe immer siegt."