Klimawandel Das 1,5-Grad-Ziel ist Geschichte. Wofür es sich jetzt zu kämpfen lohnt

Zum siebten globalen Klimastreik im März 2021 malten Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe Fridays for Future einen Appell für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels auf eine Straße in der Hamburger Innenstadt
Zum siebten globalen Klimastreik im März 2021 malten Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe Fridays for Future einen Appell für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels auf eine Straße in der Hamburger Innenstadt
© picture alliance / dpa
Das 1,5-Grad-Limit bei der Erderwärmung hat die Menschheit so gut wie sicher schon gerissen. Wir müssen jetzt loslassen. Und brauchen neue Ziele

Erinnern Sie sich noch? Anderthalb Millionen Menschen waren am 20. September 2019 in Deutschland auf den Straßen, um für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels zu demonstrieren. Allein in Hamburg sollen es 100.000 gewesen sein. So eine Demo hatte ich in der eher reservierten Hansestadt noch nie erlebt. Ich war überwältigt. Und dachte: Entweder diese jungen Leute schaffen es, oder wir schaffen es gar nicht. "We are unstoppable": Nie wollte ich das von der jungen Klimabewegung lieber glauben als damals auf der Straße.

Fünf Jahre später ist die Aufbruchsstimmung verflogen. 2024 wird das erste Jahr seit Beginn der Industrialisierung mit einer 1,5 Grad Celsius wärmeren Atmosphäre sein. Sehr wahrscheinlich werden wir die Schwelle um das Jahr 2030 auch nach klimatologischen Kriterien überschreiten. (Die mittlere Temperatur muss dafür zwei Jahrzehnte lang über 1,5 Grad liegen. Als Jahr der Überschreitung wird dann die Mitte des Zeitraums angenommen. Ganz sicher sein können wir also erst um das Jahr 2040.) Und auch das Zwei-Grad-Limit – laut dem ehemaligen NASA-Forscher James Hansen ein "Rezept für eine Katastrophe" – steht auf dem Spiel. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten wir laut Prognosen sogar bei knapp drei Grad landen. Es ist kein bisschen Übertreibung in dem Satz: Die Klimakatastrophe nimmt ihren Lauf.

Nun heißt es Abschied nehmen vom 1,5-Grad-Mantra und sich auf ein neues Ziel einigen.

Zuerst das Mantra: "1,5 Grad", das war seit der Einführung auf der Pariser Klimakonferenz 2015 ein griffiger Slogan. Es klang wie etwas, was machbar ist. Wie eine feste Grenze, an der sich fortan die vereinte Menschheit orientieren müsste – und könnte. Wissenschaftlich begründet war es allerdings nie, und Expertinnen zweifelten schon damals an seiner Erreichbarkeit. Es war – als Anreiz zur gemeinschaftlichen Anstrengung – schon immer politisch motiviert.

Mit jedem zusätzlichen halben Grad Temperaturanstieg wird es "deutlich mehr Hitzewellen, Starkniederschläge und Überflutungen" geben. Und die Vorstellung, unterhalb einer bestimmten Temperaturschwelle sei alles noch handhabbar und irgendwie in Ordnung, war schon immer ein gefährlicher Irrtum. Zumal sich das Überschreiten der 1,5-Grad-Schwelle erst nach Jahrzehnten und nur rückblickend bestimmen lässt. Das falsche Sicherheitsgefühl, das das "1,5 Grad" vermittelte, seine Abstraktheit verleitete dazu, die Lage kollektiv schönzurechnen und konkrete Maßnahmen auf später – also in die nächste Legislaturperiode – zu verschieben. Zumal in Zeiten der Wirtschaftsflaute.

Und das Ziel? Das alte bleibt auch das neue: Jedes Zehntelgrad zählt. Auch und gerade in einer krisengeschüttelten Welt. Die Erderwärmung auf "unter zwei Grad" zu begrenzen, wie im Pariser Klimaabkommen vereinbart, das gilt auch weiterhin. Aber Temperaturlimits reichen nicht. Wir müssen an die Ursache ran: das Verbrennen von fossilen Energieträgern. Je schneller der Ausstieg kommt, desto besser. An diesem Befund ändert sich nichts. Richtig bleibt auch: Es wäre sehr viel günstiger, die Dekarbonisierung jetzt entschlossen voranzutreiben, als später für Schäden durch Wetterextreme aufzukommen. Gerechter ist es ohnehin – gegenüber nachfolgenden Generationen und gegenüber den Menschen im globalen Süden.

Einfach wird das nicht: Um die jungen Leute, die noch vor fünf Jahren 1,5 Millionen Menschen auf die Straßen brachten, ist es still geworden. Der friedliche Massenprotest ist ziemlich folgenlos verebbt – ebenso wie die Aufregung um die späteren Klebeaktionen. Im Parlament marschieren rechte Klimaleugner auf, Maßnahmen zum Klimaschutz werden – nicht nur von ihnen – als "Ideologie" und "Bevormundung" beschimpft.

Die Klimapolitik steckt in der Krise – und steht doch vor gewaltigen Herausforderungen. Zu ihrer Bewältigung braucht sie uns alle. Wir dürfen uns nicht weismachen lassen, es gäbe zu ihrer demokratischen, gemeinschaftlichen Aushandlung und Bewältigung irgendwelche Alternativen. Ob wir das schaffen? Wer weiß. Es nicht zu versuchen ist keine Option.