Es ist nicht einfach anders zu sein, als die meisten Menschen dieser Welt. Dabei habe ich z.B. mit meiner Freundin Emma fast alles gemeinsam. Beide sind wir fast zwölf, gehen beide auf eine weiterführende Schule, tragen Ohrringe und veranstalten Fernsehabende. Doch bei dieser Gemeinsamkeit gibt es einen Unterschied. Im Gegensatz zu Emma, sehe ich den Film nicht. Denn... ich bin blind. Trotz meiner Behinderung verhält sich mein Leben ziemlich normal. Ich habe viele Freunde und unternehme viel mit ihnen. Das war vor ein paar Monaten aber noch ganz anders gewesen. Ich hatte damals keine Freunde und auch sonst war ich immer unter den anderen Kindern „die Behinderte“. Ich ging in eine Schulklasse mit Inklusion, also eine Klasse in der Kinder mit und ohne Behinderung zusammen lernen...
... Der Gong, der das Ende des Schultages verhieß, erklang. Unter lautem Schreien packten die meisten Schülerinnen und Schüler ihre Schulsachen und rannten aus dem Klassenraum. Ich nahm meine Schultasche, legte sie mir über die Schulter und tastete mit dem Fingern nach meinem Blindenstab, den ich am Anfang der Stunde an meinen Tisch gelehnt hatte. Ich griff ins Leere. Mit meinen Fingern fuhr ich die Tischkante rauf und runter und tastete mit meinem Fuß den Boden ab. Nichts. Mein Blindenstab war wie vom Erdboden verschluckt. Eine böse Vorahnung machte sich in meinem Körper breit.
Oh nein! Nicht schon wieder.
Aus der Stille des Klassenraumes kombinierte ich, dass Frau Mertjages (meine Lehrerin) schon weg war. Trotzdem war es eine komische Stille. Ich hörte leises Atmen. Also waren sie noch hier. „Bitte gebt ihn mir wieder!“, ich streckte die Hand aus. Nichts passierte. Nach kurzer Zeit vernahm ich leises Gekicher, dann sagte eine Mädchenstimmen, die ich nur all zu gut kannte: „Ach, die kleine Tanja will ihren komischen Spazierstock wieder haben. Was meint ihr? Soll sie ihn kriegen? “. Wieder hörte ich leises Kichern. „Wisst ihr was, Tanja soll sich doch ihren Stock holen, wenn sie ihn so unbedingt haben will.“, wieder die Mädchenstimme. Es war Emma. Ich konnte mir nur all zu gut vorstellen, wie sie sich in diesem Moment aufplusterte. Um sie herum eine Schar kichernde Mädchen.
Spöttischer Applaus
Wut stieg in mir hoch. Konnten diese Idiotinnen mich nicht einfach in Ruhe lassen? Der Stimme nach waren die Mädchen höchstens zwei Meter von mir entfernt. „Na Tanja! Guck mal, ahh sorry, du kannst ja gar nicht gucken, wir legen Deinen Stab jetzt hier auf den Tisch. So und jetzt gehen wir. Tschau, tschau!“, ich hörte, wie Emma meinen Blindenstab auf einen der Tische legte und dann mit ihren Freundinnen den Raum verließ. Langsam tastete ich mich zwischen den Tischen hindurch zu der Stelle, wo mein Stab liegen sollte. Mit meiner ausgestreckten Hand berührte ich ihn schon, wurde unvorsichtig, stolperte über ein Tischbein und knallte auf die Erde. Mein Knie pochte wie verrückt, sonst war mir aber nicht viel passiert. Schwerfällig richtete ich mich auf und nahm meinen Blindenstab. Jetzt war es für mich kein Problem mehr, die Schule zu verlassen.
Auf dem Schulhof empfing mich lauter Applaus und die folgenden Rufe: „He Tanja, Du hast es geschafft“, „Respekt“ oder „Und das, ohne zu gucken“. Ich war kurz davor zu heulen. Warum konnten die mich nicht einfach in Ruhe lassen? Jetzt ergriff Emma wieder das Wort: „Tanja, wir machen dir einen Vorschlag. Wenn du heute Nachmittag in den Wald kommst und eine Mutprobe bestehst, lassen wir dich in Ruhe.Was hältst du davon?“ Was sollte ich schon davon halten? Um diesen Idioten aber zu zeigen, dass ich keine Angst hatte, sagte ich: „Ich komme“.
Das Treffen im Wald
Wie vereinbart traf ich nun am Nachmittag im Wald auf Emma und die anderen. Meinen Eltern hatte ich nichts von der Mutprobe gesagt. Sonst hätten sie mich nie hier her gefahren. An meiner Seite ging Leon, mein Blindenhund. Mit ihm fühlte ich mich irgendwie wohler und er war ein prima Gefährte. Wie mir Nina (eine von Emmas Freundinnen) erklärte, musste ich bei der Mutprobe über einen Baumstamm laufen, der über einem tiefen Bach lag. Während ich mich darauf vorbereitete, meine Schuhe auszog und den Baumstamm auf Moos und andere Sachen untersuchte, bekam ich mit, wie Emma rum nörgelte. Sie hatte ihre kleine Schwester Leonie mitnehmen müssen und trug nun die ganze Zeit eine vierjährige auf dem Arm. Zu gern hätte ich ihr Gesicht gesehen. Aber das ging nun mal nicht. Aber deshalb war ich hier. Ich würde denen schon zeigen, dass ich keine Angst hatte.
Ich drehte mich um. „Ich bin bereit!“, dabei machte ich mich so groß wie nur möglich. „OK. Du musst einmal über den Baumstamm und wieder zurück. Wenn du es schaffst, lassen wir dich in Ruhe, wenn du aber in den Bach fällst oder aufgibst hast du deine Chance verspielt.“ Ich drehte mich wieder dem Baumstamm zu. Mit meinen nackten Füßen wagte ich einen ersten Schritt und....fand halt. So tastete ich mich langsam vorwärts. Hinter mir hörte ich Leons aufgeregt Fiepen, unter mir das leise plätschern des Baches. Ich war meiner Meinung nach schon ziemlich weit gekommen, als plötzlich hinter mir ein Schrei ertönte.
Im Wasser
Wie ich später erfuhr, hatte Emma Leonie auf den Boden gesetzt und als alle gebannt auf mich geguckt hatten, war Leonie aufgestanden und - schwups - ins Wasser gefallen. Ich hatte mich, des Schreies wegen, geistesgegenwärtig fallen gelassen und war nun auch im Wasser. Der Bach war sehr tief, so landete ich einigermaßen unproblematisch. Zum Glück konnte ich gut schwimmen. Meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich mindestens mein Silber-Abzeichen mache, falls ich einmal ins Wasser fallen würde. Ich hörte das Schreien der kleinen Leonie, als sie immer wieder wegen der Strömung unter Wasser gedrückt wurde. Ohne nachzudenken, was ich tat, schwamm ich der Kleinen entgegen. Sie wurde mit der Strömung mitgerissen und kam so direkt auf mich zu. Ich ergriff sie an ihrem Kleidchen und zog sie über Wasser. Jetzt kamen auch die Anderen mir zur Hilfe und zogen mich samt Leonie aus dem Wasser. Nachdem ich mich erholt hatte, überschütteten mich alle mit Lob. Leonie hatte sich noch schneller erholt als ich und krabbelte mir auf den Schoß.
Am nächsten Tag kam Emma in der Pause zu mir: „Tanja. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Es war dumm von mir, dich wegen deiner Blindheit zu ärgern. Ich weiß nicht, wie ich das jemals wieder gut machen kann!“ Emma klang so niedergeschlagen, dass ich genau wusste, wie ernst sie es meinte: „Ist schon okay, Emma. Hauptsache, ihr habt es begriffen.“ Emma klang gleich viel fröhlicher: „Heißt das, du bist mir nicht böse?“ „Nein!“ „Oh, super. Hast du heute Abend Zeit für eine Übernachtungsparty?“...
... Und so hatte ich auf einen Schlag viele gute Freundinnen gefunden und wurde auch nicht mehr geärgert.