Es war ein warmer Spätsommertag. Linda rannte kichernd hinter ihrer Freundin Cae her. Es war Wochenende und die beiden wollten diesen Tag so richtig genießen! "Jetzt warte doch mal auf mich!", rief Linda und holte Cae ein. Diese lief mit ihrer pinken Plastiktasche über der Schulter lässig die Einkaufsstraße entlang. "Hey, wohin wollen wir als erstes?", fragte Linda mit glühenden Wangen. "A&N?", fragte Cae mit schräg gelegtem Kopf. Linda nickte. "In Ordnung", meinte sie, worauf Cae ihre blonde Haarpracht zurückwarf und motiviert rief: "Na dann los!" Zielstrebig lief sie auf das große Einkaufszentrum zu, und wenige Minuten später fanden die beiden sich in einem Dschungel aus Klamotten wieder: Jeans, glitzernde Miniröcke, Pullis und jede Menge T-Shirts und Tops.
"Du bist Expertin, such du dir zuerst was aus!" sagte Linda, die sich immer nicht so wohl in Kleidungsläden fühlte. Die laute Musik, die vielen Menschen und die stickige Luft waren nichts für sie. Cae ging zu einem Ständer mit Tops und zog ein neongelbes heraus. Ein aufgedrucktes Herz prangte in der Mitte mit der Aufschrift: I LOVE MY LIFE. Cae hielt das Top prüfend vor Linda, um zu sehen, wie es sich an ihr machte. "Willst du das nicht anprobieren?" Linda zögerte. Sie wusste selbst nicht warum, aber unwillkürlich musste sie an die Stunde Gemeinschaftskunde gestern denken. Das Thema war "Kinderarbeit" gewesen. Im Unterricht hatten sie einen Film dazu angesehen. Kleine Kinder und Jugendliche hatten unter schwersten Bedingungen Kleidungsstücke nähen müssen. Der Lohn dafür war lächerlich gering. Linda fand solch eine Ausbeutung schrecklich. Aber was konnte man dagegen schon tun? "Hey Linda, hast du mir gerade überhaupt zugehört?!"
Ortswechsel: New Delhi
Ortswechsel: Wir befinden uns nicht mehr in Frankfurt, sondern in New Delhi, in einem nur schwach beleuchteten Raum. Die Luft ist stickig und heiß und es ist nichts weiter zu hören als das Rattern von Nähmaschinen und Anweisungen von Aufsehern. An den Maschinen knien zahlreiche Kinder, unter ihnen die zehnjährige Ann, welche zwar konzentriert arbeitet, aber deren Gedanken nebenher abschweifen. I LOVE MY LIFE steht auf dem Top, das sie näht. Nein, denkt sie, warum sollte sie ihr Leben lieben? Sie arbeitet tags und manchmal sogar nachts, näht eines dieser Shirts nach dem anderen und bekommt gerade genug Geld, um ihrer Mutter etwas zu Essen zu bringen. Diese liegt schwerkrank in einem der Wellblechhäusern der Slums von Delhi, und Ann hat keine Hoffnung mehr.
Ihr ist nach Weinen zumute, doch sie hat jeglichen Ausdruck ihrer Gefühle verlernt. Sie kann nicht mehr lachen, sie kann nicht mehr weinen, sie kann nicht mehr wütend sein. Hoffentlich mache ich keinen Fehler, denkt sie. Dann zieht mir der Chef kein Geld ab. Doch bis zur Lohnauszahlung sind es noch einige Stunden. Bald darf ich nach Hause zu Mama, denkt Ann. Dann kann ich Mama etwas zu essen bringen, selbst etwas essen und ein wenig schlafen. Und ich habe eine kleine Pause. Doch danach geht es wieder los und ich muss wieder arbeiten. Ihr springt wieder die Aufschrift des Tops ins Auge: I LOVE MY LIFE. Sein Leben lieben - Geht das überhaupt?
Zurück in Frankfurt
Linda nickte. "Doch, doch. Natürlich hör ich dir zu!" Sie grinste. Cae sah sie fragend an. "Na, was ist jetzt?" Linda schüttelte den Kopf. "Nö, ich glaube, ich hab noch genug Klamotten im Schrank. Heute gehe ich nur bummeln. Willst du noch ein bisschen Sachen anprobieren?" Cae schüttelte ebenfalls den Kopf. "Nee, dann ich auch nicht." Linda strahlte erleichtert. Dann fragte sie: "Wie wär's mit einer Kugel Eis?" Dieser Satz zauberte Cae ein Lächeln auf die Lippen. "Warum nicht?"
Lieber Chef der Nähfabrik in New Dehli,
ich weiß, Sie brauchen auch Geld; jeder braucht es, aber die Kinder ihrer Fabrik arbeiten hart. Sie müssen mithelfen, ihre Familien zu versorgen, aber sie brauchen auch Zeit, um zu spielen, zu träumen und zu lachen. Ziehen Sie ihnen Teile des Lohns ab, weil sie einen Fehler machen, so haben sie es noch schwerer und müssen doppelt so viel arbeiten! Sehen Sie diese Kinder mit anderen Augen. Sie wünschen sich doch nur das, was sich alle wünschen: Ein lebenswertes Leben. Ich werde ab heute keine Kleider mehr kaufen, die von Kindern hergestellt wurden. Zahlen sie stattdessen den Eltern faire Löhne, damit sie ihre Familien versorgen können.
Ich hoffe, Sie akzeptieren diese Forderungen. Denken Sie darüber nach.
Liebe Grüße,
Ein Mädchen, das die Not der Kinder erkannt hat