An der Gipfelstation der Bergbahn oberhalb von St. Christina werden als Erstes meine Spikes einkassiert, die ich mit einem Gummi über die Bergschuhe gezogen hatte. "Die taugen gerade für den Kirchgang im Ort", kommentiert Roman Runggaldier brummig, der mir auch noch die Kapuze des Anoraks vorsichtig über die Mütze zieht: "Wirst brauchen, hier heroben, es weht." Im Rucksack hat unser fürsorglicher Wanderführer sogenannte Grödel für den Fotografen und mich. Grödel, so heißen die dünnen Eisenketten mit spitzen Haken, die unter die Sohlen geklemmt werden und schon für unter 30 Euro zu haben sind.
Der Effekt ist sensationell. Wie Eidechsen kleben wir mit den Schuhen auf den Eisplatten, und es dauert nicht lange, bis wir das jahrzehntelang eingeübte eierige Laufen auf Schnee und Eis vergessen und einfach schnurstracks bergauf gehen. Minustemperaturen haben die Schneefelder konserviert, kleine Erhebungen im Schnee machen die Welt darunter sichtbar, Maulwurfshügel, Felsen, Büsche, alles noch vom Weiß bedeckt. Vereiste Wasserfälle in den Felsen funkeln im Sonnenlicht, das es nach der Nacht immer erst spät wieder ins enge Südtiroler Grödner Tal schafft.
Aber wie so vielen Skiorten in den Alpen schmilzt auch dem Grödner Tal der Schnee davon. Wer im Winter zu Fuß durch die Berge geht, braucht nicht viel Schnee, keine Schneekanonen, Stauseen fürs Schneekanonenwasser, keine Lifte und kein Personal – außer vielleicht einen Guide. Winterwege zu räumen und auszuschildern, das kostet Gemeinden nicht viel Geld. Als die Lifte während der Pandemie nicht fuhren, trieb es immer mehr Leute zu Fuß in die Berge. Auch Skitouren boomten. Aber Winterwandern hat sich durchgesetzt. Es ist so viel einfacher. Man geht einfach los. So wie wir an diesem eisfrostigen Wintermorgen.

Das Grödner Tal liegt ganz im Südosten Südtirols, fast an der Grenze zum Trentino, die hohen Berge nach Norden halten die Wolken auf. In den Dolomiten drumherum fällt noch weniger Schnee als sonst in den Alpen. Aber für uns sind die Bedingungen perfekt: Bei Neuschnee müssen die gespurten Wege erst geräumt werden, würde uns der Wind die Flocken wie Nadelstiche ins Gesicht peitschen.
15 Winterwanderwege hat das Grödner Tal, bekannt für den Wintersport rund um die Orte Wolkenstein, St. Ulrich und St. Christina, ausgeschildert. Der kürzeste eineinhalb, der längste 13 Kilometer lang, fast eine Tagestour. Uns hat der Wanderguide den Pieralongia-Weg ausgesucht, auf knapp über 2000 Metern führt der über ein Hochplateau am Fuß der Geisler Spitzen, immer durch die Sonne, die steilen Felsen als beeindruckende Winterkulisse im Hintergrund. Der Wind fegt durch die alten Fichten und rauscht durch die Latschenkiefern, die sich tief in den Schnee ducken, fängt sich im Zaun einer Alm und bringt deren Draht zum Singen.
Vieles, was Roman Runggaldier erzählt, und der 66-Jährige aus dem Grödner Tal redet viel auf dieser Tour, geht im Wind und im Rascheln meiner Kapuze unter. "Natur", höre ich, ". . . seit Jahrzehnten Wanderführer . . ." und "Wildfütterung im Winter . . ." und "Koch war ich . . . und Hirte. Und Holzschnitzer, so wie alle hier . . ." Dann schrumpft der lange Mann, der vor lauter Reden aus Versehen den gut markierten Weg verlassen hat und bis zu den Knien durch die Altschneekruste eingebrochen ist.

So anders ist das Gehen im Winter. In der Schneefläche fangen sich Fichtennadeln, Blätter, Gräser, festgefrorene Erinnerungen an den Sommer, wenn himmelblauer Enzian und gelber Frauenschuh die Wiesen Südtirols einfärben, Murmeltiere und Bergdohlen pfeifen und die Glocken des Almviehs klingeln. Der Winter hört sich anders an, tief hängende Äste schubbern über die Schneedecke, Schritte knirschen auf dem Eis, aus den Wänden der Geisler Spitzen klackert hin und wieder ein Stein.
Im hinteren Tal, wo der Weg im Sommer weiter auf die Gipfel führen würde, stehen die schneeverkrusteten Felsen so eng, dass sie monatelang keine Sonne durchlassen, dröhnt der Wind wie ein heulender Sturm, verstärkt vom Echo der Wände. Die kalte trockene Luft brennt im Gesicht und macht die Tour deutlich anstrengender als das sommerliche Zufußgehen. Als der Guide an einem sonnigen, windgeschützten Platz die Thermoskanne auspackt, bin ich ziemlich durchgeschwitzt und dankbar für seinen heißen Mix aus Orangensaft, Salbeitee und Schnaps.
Beim Winterwandern hat man Zeit: auch für Gespräche mit einem alten Bauer
Als Winterwandernde meiden wir die Skihütten an den Pisten. Wer im Schnee oben unterwegs ist, sucht das Weite, die Stille und Einsamkeit in den Bergen. In einem großen Bogen führt der Weg immer weiter über das Hochplateau, vor dem sich die berühmten Gipfel des Grödner Tals aufbauen: die kantige Sellagruppe, die Zacken von Platt- und Langkofel, Seceda, der Schlern. Sie stehen wie ausgeschnitten vor dem stechend blauen Himmel.
Die Regensburger Hütte, an der wir wenig später vorbeikommen, liegt im Winterschlaf. Wenig später treffen wir auf Heini Comploi, einen Schulfreund Roman Runggaldiers, der mit seiner Tochter und deren drei kleinen Söhnen den Tublahof bewohnt und bewirtschaftet. Der Bauer hat das Holzhacken unterbrochen, als er uns über den Hang herankommen sieht. Hühner picken zu seinen Füßen, die Kühe dampfen aus der offenen Stalltür, den Kater im Arm redet er vom Leben auf 1790 Metern, hoch über dem Ort Wolkenstein. Auch das ist Winterwandern: Man hat Zeit für Gespräche mit einem alten Bauern, der sich alle Zeit der Welt nimmt, bis er auftaut.

Zweimal am Tag musste er als Bub den Zwei-Stunden-Schulweg gehen. Dann melken, ausmisten, Holzfiguren schnitzen. Als der Vater starb war er 14. Neben dem alten Hof baute er später neu, vermietet dort heute auch Ferienwohnungen. Nach einigem Zureden sperrt er uns das 400 Jahre alte Haus auf, das keiner mehr nutzt. Holzskier liegen im Flur, Kisten voller Holzfiguren. Sterbebildchen, mit denen der Toten gedacht wird, klemmen am Kruzifix in der Stube. Ein Schwarz-Weiß-Foto der Großeltern liegt unter Staub neben dem Kachelofen.
An der Wand hängt ein neuer hässlicher weißer Kasten mit Kabeln, die offen über die Bänke laufen und die jahrhundertealte Stube respektlos beschädigen, die Sicherungen für die Webcam der Gemeinde gleich neben dem Hof. "Passt schon, hab ja keine Verwendung mehr fürs alte Haus", sagt Heini Comploi.
In St. Christina ist es schon fast dunkel, als wir vom Tublahof nach unten wandern, die Fenster der vielen Hotels leuchten wie geöffnete Adventskalendertürchen, der Kirchturm dröhnt sein Ave-Maria-Leuten. Wie absurd Touristenskiorte wie dieser doch wirken, wenn man aus den einsamen Winterbergen kommt. An der Talstation stauen sich die Skifahrer. Ein Laufband befördert sie von der Bergbahn bis fast direkt zu ihrem Auto auf dem Parkplatz. Sie müssen kaum einen Meter zu Fuß gehen. Am liebsten würde ich sofort wieder nach oben fahren, nur raus hier, zurück in die Einsamkeit.
Anfang eckt Demetz mit seinen nackten Figuren an. Heute sind die Grödner stolz auf den Künstler
Aron Demetz versteht sofort, was ich meine. Auch er meidet den Winterrummel in den Dörfern, allerdings auf seine Art. Der Künstler holt sich den stillen Winter nach Hause, hat sich in sein ungeheiztes Atelier im Industriegebiet von Lajen am Eingang des Grödner Tals zurückgezogen, verlässt es nur selten, um in den verschneiten Bergen zu wandern. Immer auf der Suche nach Material für seine Kunst, das ihm der Winter schenkt. Hier eine verkrüppelte Kiefer, vom Schnee verformt, dort ein jahrhundertealter verwitterter Baum, von Lawinen gefällt.
Der Wolkensteiner lernte das Holzschnitzen wie so viele hier schon als junger Mensch. Anfangs eckte er im engen Tal mit seinen nackten Figuren an, nach der ersten Ausstellung landeten die Skulpturen im Fluss. Jetzt sind die Grödner stolz auf ihren berühmten Künstler. Demetz stellte auf der Biennale in Venedig aus, in seinem Atelier, einer ehemaligen Pistenraupenfabrik, stehen viele Kisten mit Skulpturen, die demnächst in die Welt verschickt werden. Dicke meterhohe Stämme lagern in der kalten Halle, nebenan die Skulpturen der Biennale, für die er die Holzkörper stundenlang mit Feuer abflammte.

In einem der kleineren Räume hinter zugezogenen Jalousien versteckt er die neuesten Arbeiten. Filigrane hohle Köpfe aus Holz, die Außenschicht reduziert auf papierdünne Jahresringe, die fast wie computeranimierte 3-D-Modelle aussehen. "Ich werde sie wohl nie ausstellen können, sie werden keinen Transport überleben. Schaut mal", sagt Demetz und streichelt mit seinen von der Kälte geröteten Händen ganz vorsichtig über die Lamellen der Köpfe: "Das ist der Winter. Das Winterholz der Bäume ist viel härter als das des Sommers. Die Sommerringe des Baums dazwischen habe ich wegpoliert."
Am nächsten Tag zieht es uns mit Roman Runggaldier, unserem Guide, wieder nach oben, dorthin, wo auch Aron Demetz manchmal unterwegs ist, auf dem Außerraschötz-Plateau, hoch über St. Ulrich. Der flache Weg führt durch Latschenkiefern, fast über der Baumgrenze.
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Es taut, Löcher sind in den Altschnee geschmolzen, aus denen die kleinen Latschenkiefern spitzen. Auch manche Felsen hat die Sonne freigelegt, graue Tupfer in der weißen Fläche. Am höchsten Punkt des Plateaus, auf 2281 Metern, ist die Fernsicht umwerfend. Und verwirrend. 360 Grad, in alle Himmelsrichtungen, nur Berge, Bergketten, Felsspitzen, die kompletten Dolomiten, Marmolata, der Brenner, dazwischen Villnöss-, Puster- und Eisacktal. Sogar der Ortler, 100 Kilometer weit weg und fast in der Schweiz, steht wie ausgestanzt am Himmel. Roman Runggaldier kommt ins Plaudern, empfiehlt weitere Touren. Durch das Vallunga-Hochtal. Oder hinauf zur Cason-Hütte unterhalb der Plattkofel-Felsen.
Aus den Solotouren ist dann leider nichts geworden. Grödel für die Schuhe waren in allen Sportgeschäften im Tal ausverkauft. Wir sind wohl nicht die Einzigen, die für das Winterwandern dahingeschmolzen sind.