Wer von Hamburg aus schnell ans Meer will, muss keine Kompromisse machen: Die Bahn bringt Abkühlungsbedürftige in nur anderthalb Stunden staufrei in Strandnähe. Was viele nicht wissen: Wer ein bisschen Zeit mitbringt, kann auf einem abwechslungsreichen Spaziergang Jahrtausende Landschaftsgeschichte und wirkliche Wildnis erleben – mitten in Schleswig-Holstein.

Vom Endbahnhof Travemünde Strand sind es nur wenige Meter bis zur großzügigen Promenade und dem noch breiteren Sandstand. Übrigens schlendert es sich, mit einer leichten Meeresbrise im Gesicht, noch angenehmer mit einer Kugel veganer dunkler Schokolade aus der "Eisdiele". Der Krach und die Enge der Hamburger Innenstadt und des Hauptbahnhofs liegen jetzt schon gefühlte Tage hinter uns. Rechter Hand schweift der Blick von den Hotelbausünden der 1970er-Jahre, zwischen denen die Masten des Großseglers "Passat" aufragen, über die Küstenlinie, die noch vor 35 Jahren zur DDR gehörte, und die Lübecker Bucht. Nostalgische Traditionssegler kreuzen hier mit ihren rotbraunen Segeln, riesenhafte Auto- und Passagierfähren stampfen der offenen Ostsee entgegen.
Wo Natur Natur sein darf
Am Ende der Promenade stapfen wir noch flugs über den FKK- und den Hundestrand. Und stehen nun in einer für Norddeutschland einzigartigen Wildnis: Vor Zehntausenden Jahren haben die Gletscher der letzten Kaltzeit hier unvorstellbare Massen von Findlingen aus Skandinavien, Geröll, Sand und Lehm aufgeschüttet. Heute ragt die rund vier Kilometer lange Steilküste bis zu 20 Meter über den Meeresspiegel. Als sogenanntes aktives Kliff verändert sie sich ständig. Jedes Jahr nagt das Meer, vor allem während der Winterstürme, bis zu einem Meter von der steilen Kante ab – um mit dem feineren Material die Strände von Timmendorf und Scharbeutz aufzufüllen. Von Küstenschutz keine Spur. Hier darf die Natur wirklich noch Natur sein.

Von oben stürzen jahrzehntealte Buchen in die Tiefe, streng geschützte Uferschwalben graben in die frischen Abbruchkanten ihre Bruthöhlen – und Pionierpflanzen wie Huflattich und Weidenröschen erobern den neu geschaffenen Lebensraum. Bis zum nächsten Abbruch. Große Findlinge – auf gut norddeutsch "Klamotten" – bleiben malerisch und unverrückbar am Ufersaum liegen. Oft tragen sie noch die Spuren ihrer langen Reise aus Skandinavien: Gletscherschrammen zeugen davon, dass manche dieser Brocken an der Unterseite Hunderte Meter dicker Gletscher über den steinigen Untergrund geschoben wurden.
Rückweg mit grandiosen Ausblicken
Bei Hochwasser, wenn die Wellen fast an die Steilkante schlagen, kann es hier auch einmal eng werden. Ansonsten ist der Strand überwiegend steinig, aber gut begehbar. Mit etwas Glück findet man im Spülsaum Zeugen des Lebens vor Hunderten Millionen Jahren, zum Beispiel Seeigel oder sogenannte Donnerkeile. Die spindelförmigen, spitz zulaufenden Gebilde sind Überreste von Belemniten, längst ausgestorbenen Verwandten unserer heutigen Tintenfische.

Wer nicht die etwa sechs Kilometer am Strand bis Niendorf laufen will, kann schon vorher eine der Treppen nutzen, die den Strand mit dem oberen Küstenweg verbinden. Denn auch wenn es am Wasser noch so schön ist: Es lohnt sich, den Rückweg über den komfortabel ausgebauten Wanderweg auf dem Steilufer anzutreten, der fast jedes Jahr ein bisschen weiter landeinwärts verlegt werden muss. Das Rauschen der Brandung verliert sich hier oben, dafür weitet sich der Blick über die Bucht zur Linken und die stillen Felder zur Rechten. Gerade am Abend, wenn sich der Weg leert, entfaltet die Ostseeküste hier ihren ganzen Zauber.

Tipp: Wer mit der Regionalbahn von Hamburg anreisen möchte, sollte der Verlockung widerstehen, die in den Sommermonaten durchgehende RE8 zu nehmen. Die Züge sind oft sehr gut ausgelastet, um es positiv zu formulieren. Und der Umstieg im Lübecker Hauptbahnhof von der RE 80 in die RE 86 kostet nur wenige Minuten.