Evolution 16 statt 6: Rätsel um "überzählige" Raupenbeine gelöst

Mit ihren acht Beinpaaren ist die Raupe des Schwalbenschwanzes (Papilio machaon) perfekt an ihren fressenden Lebensstil angepasst: Mit den Thoraxbeinen ergreift sie Pflanzenteile, mit den Bauchbeinen und dem Nachschieber am Körperende sorgt sie für Halt am Stängel
Mit ihren acht Beinpaaren ist die Raupe des Schwalbenschwanzes (Papilio machaon) perfekt an ihren fressenden Lebensstil angepasst: Mit den Thoraxbeinen ergreift sie Pflanzenteile, mit den Bauchbeinen und dem Nachschieber am Körperende sorgt sie für Halt am Stängel
© nature picture library / Edwin Giesbers / mauritius images
Woher stammen, evolutionär gesehen, die zahlreichen Raupenbeine – wenn doch das fertige Insekt nur sechs besitzt? Forschende fanden die Antwort nun in den Genen der Falter. Und in 400 Millionen Jahre alten Versteinerungen von Krustentieren

Spinnen haben acht, Insekten sechs Beine. Das weiß jedes Kind. Und doch stimmt diese Binsenweisheit nicht ganz. Schließlich haben frühere Entwicklungsstadien der Insekten nicht nur drei Beinpaare – sondern bis zu neun. Woher die "Beine" der Raupen entwicklungsgeschichtlich stammen, das war bislang eines der großen ungelösten Rätsel der Insektenkunde. Nun zeigt eine in Science Advances veröffentlichte Studie von Forschenden aus Singapur: Die Fortbewegungsmittel gehen auf ein genetisches Programm zurück, das schon vor über 400 Millionen Jahren einfachen Krustentieren Beine machte.

Beine, die keine sind

Es ist eine der faszinierendsten Metamorphosen im ganzen Tierreich: Während der Entwicklung vom Ei zum fertigen Insekt nehmen Falter vollkommen unterschiedliche Formen an: Wer diesen Zyklus nicht kennt, würde kaum eine pummelige, unansehnliche Raupe mit einem grazilen, bunt geflügelten Schmetterling in Zusammenhang bringen. Auch im Detail scheint es kaum Übereinstimmungen zu geben: So verfügen "fertige" Schmetterlinge, sogenannte Imagines, über drei gegliederte, schlanke Beinpaare, während ihre Raupen sich auf saugnapfartigen Stummelbeinen fortbewegen: Neben drei Beinpaaren am Thorax, dem vorderen Teil des Insektenkörpers, verfügen die meisten Raupen noch über ein Beinpaar am Körperende, den sogenannten Nachschieber – und über vier Beinpaare am Bauch.

Puppen dreier Schmetterlinge

Metamorphose Die wundersame Verwandlung der Schmetterlinge

Die Puppen von Schmetterlingen gleichen wunderschönen, reglosen Skulpturen, wie die Bilder des Fotografen Levon Biss zeigen. In ihrem Innern aber vollzieht sich ein riskanter Akt der Zersetzung und Neugestaltung. Die Formwandlung scheint einem Ziel zu dienen: dem schnellstmöglichen Wachstum der Raupen

Diese sogenannten Bauchfüße sind streng genommen gar keine richtigen Füße – sondern paarig angeordnete, ungegliederte, fleischige Stummel. Ausgestattet mit winzigen Chitinklauen für den besseren Halt, verfügen diese "Beine" über eine nur schwach ausgeprägte Muskulatur. Bewegt werden sie vor allem durch eine Art Hydraulik mit Körperflüssigkeiten. Mit diesem Fortbewegungsapparat sind Raupen perfekt an ihr vorübergehendes Leben als kleine "Fressröhren" angepasst.

Doch woher diese Ausstülpungen entwicklungsgeschichtlich stammen, darüber konnte bislang nur spekuliert werden. Nach den drei gängigsten Theorien waren sie evolutionär entweder "Neuentwicklungen", abgewandelte Thoraxbeine – oder modifizierte Teile der evolutionären Vorläufer von Thoraxbeinen.

Reaktivierte genetische Programme aus dem Kambrium

Das Forschungsteam von der National University of Singapore (NUS) sah sich nun das genetische Programm an, das das Wachstum dieser zusätzlichen "Füße" steuert – und verglich es mit Fossilien aus dem Kambrium. Bei mehr als 400 Millionen Jahre alten Versteinerungen von entfernten Vorfahren der Insekten wurden die Forschenden fündig.

"Die Fossilien aus dem Kambrium deuten darauf hin, dass die Gliedmaßen ursprünglich als Anhängsel mit einer einzigen Wachstumsachse entstanden", erklärt die Co-Autorin der Studie, Antónia Monteiro, in einer Presseerklärung der Universität. "Mit der Zeit wurden diese Gliedmaßen zweigliedrig und verschmolzen an ihrer Basis." Das genetische Programm für diese archaischen "Beinpaare", so Monteiro weiter, wurde offenbar nie aus dem Genom der Insekten gelöscht – und scheint im Hinterleib der Raupen wieder reaktiviert worden zu sein. Darauf deuten auch Experimente mit genetisch modifizierten Raupen des Schmetterlings Bicyclus anynana hin.

Damit ist nun auch geklärt, dass die Bauchbeine nicht einfach abgewandelte Thoraxbeine sind: Sie entstammen einem Millionen Jahre alten Bauplan, der die gleiche Art von archaischen Gliedmaßen bei Krebstieren hervorbrachte – lange, bevor die ersten Insekten das Land krabbelnd und flatternd eroberten.