Falter im Flugsimulator So präzise wie Seefahrer: Bogong-Motten navigieren mithilfe der Sterne

Unauffällig, aber bemerkenswert: die australische Bogong-Motte
Unauffällig, aber bemerkenswert: die australische Bogong-Motte
© Dr. Ajay Narendra, Macquarie University
Die Falter fliegen Hunderte Kilometer in ihr Sommerquartier. Sie sind die ersten Insekten, die sich dazu nachweislich am Firmament orientieren. Das offenbart ein besonderer Versuch

Im Jahr 2000 erlangte die australische Bogong-Motte vorübergehend Berühmtheit, als sie während der Abschlussfeier der olympischen Spiele in Sydney die zuständigen Meteorologen in Panik versetzte. Auf deren Regenradar tauchte am klaren Himmel überraschend eine Wolke auf. Sie wuchs und bewegte sich dabei zielsicher in Richtung Stadion. Was zunächst nach Nieselregen aussah, entpuppte sich als Schwarm aus Millionen von Motten, die den gleißenden Flutlichtern nicht widerstehen konnten. Eine von ihnen landete mitten auf dem Kleid der Sopranistin Yvonne Kenny, die gerade zur olympischen Hymne anhob – ein drei Zentimeter langes, braun geschecktes Insekt auf einem Meer aus fuchsiafarbener Seide.

Auch wenn die Bogong-Motten in diesem Fall die Orientierung verloren hatten: Normalerweise sind sie Meister der präzisen Navigation. Den richtigen Weg zu finden ist für sie überlebenswichtig. Grund dafür ist ihr ungewöhnlicher Lebenszyklus. Im Frühjahr schlüpfen die Nachtfalter zu Abermillionen im Südosten Australiens. Kaum auf der Welt, brechen die meisten von ihnen zu einer gut 1000 Kilometer weiten Reise in die Snowy Mountains auf, eine Bergkette auf halbem Wege zwischen Melbourne und Syndey. Auf nahezu 2000 Meter Höhe lassen sie sich dicht an dicht in kühlen Höhlen und Felsspalten nieder und fallen in eine Sommerruhe. Erst im Herbst, zwischen Februar und April, werden sie wieder munter. Dann treten sie den Rückweg in den Süden an, wo sie sich paaren und anschließend sterben. 

Keine der Motten, die im Frühjahr losflattern, hat den Weg je bewältigt: Jede Generation bricht nur ein einziges Mal zu dieser erstaunlichen Rundreise auf. Und doch erreichen jedes Jahr Millionen von Bogong-Faltern ihr Ziel. Offenbar ist die Reiseroute vom Schlüpfen an fest in ihrem Hirn verdrahtet – gemeinsam mit Mechanismen, die den nachtaktiven Motten auf ihrer Reise durch die Dunkelheit den Weg weisen. 

Ein solcher Mechanismus ist bereits bekannt. Wie viele Tiere, darunter Zugvögel und Monarchfalter, besitzen die Motten einen inneren Kompass, der sich nach dem Magnetfeld der Erde richtet. Doch sie besitzen noch eine zweite, weitaus erstaunlichere Orientierungshilfe, wie ein internationales Team um David Dreyer und Eric Warrant von der Universität Lund in Schweden herausfanden. Offenbar wenden sie ihre kleinen Facettenaugen zur Navigation gen Nachthimmel.

Sie sind nicht die einzigen Insekten, die das tun. Vor gut einem Jahrzehnt wies Eric Warrant bereits nach, dass Mistkäfer das Band der Milchstraße als Richtschnur nutzen, um ihre Dungkugeln auf geradem Wege vom Kothaufen (und damit von der Konkurrenz) fortzurollen. Doch dieses Manöver findet auf der Kurzstrecke statt. Nur wenige Tiere steuern mithilfe des Himmelszeltes weit entfernte Ziele an: Menschen, einige Zugvogelarten, womöglich Seehunde. Sie alle besitzen deutlich größere kognitive Fähigkeiten als die Bogong-Motte, deren Hirn kleiner ist als ein Reiskorn.

17.000 Motten drängen auf einem Quadratmeter Höhlenwand in den Australischen Alpen zusammen. Dort verbringen sie die heißen Monate reglos in der Sommerruhe
17.000 Motten drängen auf einem Quadratmeter Höhlenwand in den Australischen Alpen zusammen. Dort verbringen sie die heißen Monate reglos in der Sommerruhe
© Eric Warrant

Doch die Experimente des Teams lassen keine Zweifel an den Fähigkeiten des Falters zu. Um die Sternen-Hypothese zu prüfen, fingen die Forschenden Motten entlang ihrer Zugroute, sowohl im Frühjahr als auch im Herbst. Mithilfe eines Flugsimulators überprüften sie, in welche Richtung sich die Tiere unter verschiedenen Bedingungen orientierten. 

Das Gerät, das sie dazu verwendeten, wurde ursprünglich für Monarchfalter entwickelt – eine weitere Spezies von Schmetterlingen, deren weite Reisen die Wissenschaft faszinieren. Der Flugsimulator besteht aus einem durchsichtigen Kunststoffzylinder, in dessen Mitte ein Falter durch einen dünnen Draht am Rücken fixiert wird. Von unten umweht ein sanfter Wind seinen Bauch und motiviert ihn, mit den Flügeln zu schlagen (das erste Modell erzeugte diesen Aufwind mittels eines PC-Lüfters, der unter einem Bündel Strohhalmen montiert war). Der Falter kann seine Flugrichtung frei wählen, kommt jedoch nicht von der Stelle.

Zunächst testeten die Forschenden die Flugrichtung der Falter im Freien, mit Blick auf den Himmel, zu verschiedenen Uhrzeiten. Obwohl die Sterne im Laufe der Nacht wanderten, blieben die Tiere auf Kurs. Dann erhöhte das Team den Schwierigkeitsgrad. In einem speziellen Labor schirmten sie den Flugsimulator vom Erdmagnetfeld ab, sodass der innere Kompass den Bogong-Motten keine verwertbaren Informationen mehr lieferte. Den realen Nachthimmel ersetzten sie durch ein winziges Planetarium für Schmetterlinge.

Nervenzellen feuern beim Flug gen Süden

Sahen die Motten auf dem Bildschirm jenes Sternenzelt, das der Jahreszeit entsprach, schlugen sie die richtige Richtung ein: Norden im Frühjahr, Süden im Herbst. Wurde die Projektion um 180 Grad gedreht, änderten sie den Kurs. Erst als die Forschenden die Lichtpunkte am Firmament willkürlich anordneten, verloren die Motten die Orientierung. "Das beweist, dass sie nicht nur zum hellsten Licht fliegen oder einem einfachen visuellen Hinweis folgen", sagt Eric Warrant, ein gebürtiger Australier. "Sie lesen bestimmte Muster am Nachthimmel, um die geografische Richtung zu bestimmen, genau wie Zugvögel."

Mithilfe winziger Elektroden spürte das Team sogar besondere Nervenzellen im Hirn der Tiere auf, die beim Flug Richtung Süden besonders eifrig feuerten. Ungeklärt ist jedoch, an welchen Merkmalen des Nachthimmels sie sich orientieren. Die Sterne zu lesen ist nicht trivial: "Die Motten müssen mit den jahreszeitlichen Unterschieden im Erscheinungsbild der Sterne sowie mit den nächtlichen Bewegungen der Sterne am Himmel klarkommen, die sich aus der Drehung der Erde ergeben", schreiben die Autorinnen und Autoren in der Fachzeitschrift "Nature". 

Womöglich nutzen sie als Fixpunkt den Himmelspol, um den die Sterne zu kreisen scheinen. Oder sie orientieren sich am Band der Milchstraße und ihrem hellen Zentrum. Von den tagaktiven Monarchfaltern ist außerdem bekannt, dass sie sich an der Position der Sonne in Abhängigkeit von der Tageszeit orientieren. Denkbar, dass die nachts reisenden Bogong-Motten solche Fähigkeiten in Bezug auf Sternenkonstellationen besitzen.

Bei seiner Forschung gehe es nicht nur um einen schnöden Nachtfalter, sagt Eric Warrant. "Es geht darum, wie Tiere die Welt um sich herum lesen. Der Nachthimmel hat menschliche Entdecker seit Jahrtausenden geleitet. Jetzt wissen wir, dass er auch Motten leitet."